In den folgenden Reportagen begeben wir uns auf Spurensuche in die afrikanische Wüste, in die libanesische Bekaa-Ebene, nach Lampedusa und Palermo, um schließlich in dem kleinen österreichischen Ort Großraming zu landen. An all diesen Orten haben Flüchtlinge ihre Geschichten erzählt, berührend, tragisch, traurig und bewegend. Das Schlimmste, sagt Dembo aus Gambia, war die Fahrt durch die Sahara, eine Flasche Wasser musste für eine Woche ausreichen. Hinzu kam die Angst, auf dem vollgepackten Pick-up zu sterben. Fatma in der libanesischen Bekaa-Ebene erzählt von ihrem Baby, das sie bei Schnee und Eis zur Welt gebracht hat, und in der Kälte ist es dann auch gestorben. Dieses junge Leben dauerte gerade mal 20 Tage. Aminata aus Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, berichtet im Auffanglager von Lampedusa über ihre Flucht. Ganz alleine auf sich gestellt wollte die junge Frau nur eines: ein Leben ohne Angst und Schrecken. Sie hatte kein Geld, musste sich etappenweise durchschlagen und wusste, dass sie sich nirgends sicher fühlen konnte. Auf der Flucht musste sie im Sudan und Libyen in einem Haushalt als (Sex-)Sklavin arbeiten, um sich die Überfahrt auf einem überfüllten Fischerboot leisten zu können.
In diesen Geschichten lässt sich zumindest erahnen, welche Ängste, Schmerzen und Leiden die Menschen auf ihrer Flucht begleiten, denn die beiden Journalisten interessieren sich nicht für abstrakte Zahlen, sondern suchen, finden und beschreiben menschliche Einzelschicksale. Die „Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers“, so der Untertitel, beschränken sich aber nicht auf die bewegenden Porträts Geflüchteter. Sie geben auch Einblick in die Funktionsweise der Schlepper und Menschenhändler und in die Systeme des politischen Versagens diesseits und jenseits des Mittelmeeres.
Mathilde Schwabeneder, ORF-Korrespondentin in Rom, und Karim El Gawhary, ORF-Nahost-Korrespondent in Kairo, haben all diese Geschichten aufgeschrieben und wünschen sich im gemeinsamen Schlusskapitel Offenheit und Empathie gegenüber Flüchtlingen, wenn es denn so weit ist, denn: „Die Flüchtlingsfrage wird auf lange Sicht eine der brennendsten Fragen europäischer Gesellschaften bleiben. Und sie wird keine abstrakte Frage sein. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass jeder von uns mit Flüchtlingen zu tun haben wird, sei es in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder in der Schule.” (S. 188)
Was vor allem beeindruckt, sind die positiven Beispiele und die Hoffnung auf ein besseres Leben, das viele Flüchtlinge antreibt, und nicht zuletzt die unermüdliche Arbeit engagierter Helfer. Auch von beginnender Integration ist am Beispiel des Ortes Großraming in Oberösterreich die Rede. Dort, wo zunächst die schlimmsten Befürchtungen herrschten, gelang der Schwenk zu einer einigermaßen gelingenden Willkommenskultur.
El-Gawhary, Karim; Schwabeneder, Mathilde: Auf der Flucht. Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers. Wien: Kremayr & Scheriau, 2015. 188 S., € 22,- ; ISBN 978-3-218-00989-8