Abschied von den Lebenslügen

Ausgabe: 1993 | 1

War es die Undankbarkeit des Volkes, welche im historisch so denkwürdigen und vielfach mit sentimentalen Erinnerungen befrachteten Herbst des Jahres 1989 die Intelligenz um die Früchte der Revolution brachte? Wäre das von Gigantismus und Machbarkeitswahn ausgehöhlte Gebäude des Sozialismus zu sanieren oder umzubauen gewesen? Oder ist die von voreiliger Leichtfertigkeit getragene Stimmung, mit der sich die realsozialistischen Gesellschaften Osteuropas den Verlockungen des Westens anvertrauten nicht auch als Glanzstück der Geschichte zu begreifen. Die Intelligenz - und mit ihr auch die Partei - "degenerierte nicht für Generationen zum Blutsauger, sondern wickelte ... das mißglückte System mit seinen Anführern ab". Anhand persönlicher Erlebnisse schildert Reich, der praktizierender Arzt und in der molekularbiologischen Forschung tätig, Mitbegründer des Neuen Forum und noch 1990 Mitglied der Volkskammer der DDR war wie eng, ja vielfach unausweichlich die Nähe zu den Schergen und Spitzeln des Apparats war: Intelligenz und Macht, so seine zentrale These, standen nur partiell In Opposition, bedingten und stützten einander vielmehr. Ein unangenehmer Befund gewiß, und doch spricht vieles dafür, daß sich deklarierte Regimekritiker und Anhänger des Systems in etwa die Waage hielten, mutige Kritiker isoliert waren, während an die 70 Prozent als "schweigende Watte" fungierte und letztlich doch entscheidend zum Versagen allumfassender Kontrolle beitrug. Demnach alles verspielt und alles vergebens? Keineswegs, denn mit den "theatralischen Abschlußveranstaltungen der DDR" sieht der Verfasser auch Anzeichen eines Wetterleuchtens in Richtung Zukunft. Da die Herausforderungen des ausgehenden Jahrhunderts mit den traditionellen politischen Methoden nicht zu lösen sind und sich auch im Westen Gebärden der Macht allerorten als Rituale der Impotenz erweisen, setzt Jens auf "die Revolution in den Köpfen". Freiwilligkeit und Spontaneität machen sie unberechenbar und vielversprechend zugleich, ihr Personal rekrutiert sich aus der Schar der Intellektuellen, die in der Rolle des Narren "das System im Wort transzendiert ... und verhindert, daß sprachloses Weitermachen die Bühne besetzt". Wenngleich der Autor auf die Frage "Was tun?" für sich das" Menschenrecht auf Ratlosigkeit in Anspruch nimmt", bleibt er letztlich Optimist, denn: "Wer alles zur Katastrophe programmiert sieht, wird selbst zum Faktor, der sie herbeiführt." W Sp.

Reich, Jens: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin: Rowohlt, 1992. 176 S., DM 26,- / sFr 22,- / öS 202,80