Richard von Weizsäcker in der Diskussion

Ausgabe: 1993 | 1

Sehr unterschiedliche Beiträge enthält dieser auf Richard v. Weizsäckers Parteienschelte reagierende Band zur politischen Kultur in Deutschland. Der Verwaltungsjurist Joachim Becker etwa beklagt das überzogene Anspruchsdenken der Bürger, die den Staat nur mehr als „Dienstleistungsautomaten“ wahrnähmen. Hermann Scheer, Mitglied des Bundestages, verwahrt sich gegen die Idealisierung früherer Politikergenerationen, die ja gerade durch unbegrenztes Wirtschaftswachstum. Rüstungswettlauf und Vernachlässigung der Ökologie die „Handlungskrise der Gegenwart" verursacht hätten, und fordert einen "grundlegenden Strategie- und Verhaltenswandel", also den Mut zu ganz neuen Antworten. Sein Befund: "Nicht ,die Politiker' sind am Ende, die westliche Nachkriegswirtschaft und ihre Kultur sind es." Hildegard Hamm-Brücher, Vertreterin der angesprochenen älteren Politikergeneration, bestärkt den Bundespräsidenten in seiner Parteienkritik; als vordringlich erachtet sie die Aufwertung des Parlaments im Sinne der vom Grundgesetz geforderten Gewaltenteilung. Vor "selbstgenügsamer Selbstzufriedenheit" nach dem Zerfall der kommunistischen Systeme sowie vor mangelnder Lernfähigkeit, die sich etwa in der erschreckenden Ignoranz der weltweiten Wohlstandsgefälle zeige, warnt der Politikwissenschaftler Iring Fetscher: . sehr differenziert arbeitet er das Modell der "Zivilgesellschaft" heraus, die allein - von einer qualitätsvollen öffentlichen Debatte getragen - die Politiker konstruktiv zu fordern imstande sei. Der Herausgeber Hans Wallow, selbst Mitglied des Bundestages, problematisiert in seinem Beitrag die Mediengesellschaft anhand des Verhältnisses von Politik und Fernsehen. Er führte auch das der insgesamt 15 Essays umfassenden Aufsatzsammlung angeschlossene Interview mit Horst Eberhard Richter. H. H.  Eines hat die Parteienschelte Richard v. Weizsäckers mit Sicherheit bewirkt: Der politische Diskurs hat an Substanz gewonnen. Dies bezeugt auch ein bereits vergangenes Jahr erschienener, nicht weniger lesenswerter Band, auf den nachholend verwiesen sei: Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion. Hrsg. .v. Gunter Hofmann ... Frankfurt/M.: Eichborn, 1992. 249 S.

Die verdrossene Gesellschaft. Richard von Weizsäcker in der Diskussion. Hrsg. v. Hans Wallow. Düsseldorf (u.a.): Econ, 1993. 277 S., DM 39,80 / sFr 34,- / öS 310,40