Zukunft minus und Zukunft plus

Ausgabe: 1992 | 3
Zukunft minus und Zukunft plus

Editorial 1992/3:

Die zunehmenden Krawalle gegen Asylanten und Asylbewerber sind ein Signal, das die Zukunftsbesorgten besonders ernst nehmen müssen. Denn in ihnen kündigen sich die weit über lokale Konflikte hinausgehenden Auseinandersetzungen zwischen den Armen und den Bessergestellten in der Welt an, ein möglicher 1000jähriger Krieg, der in zahlreichen Gewaltausbrüchen und Revolten auf immer neuen Schauplätzen entflammt.

Der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem, dessen Zukunftsromane und Zukunftsessays in Millionenauflagen verbreitet sind, bereitet ein Buch mit dem Titel „Sex Wars“ vor, in dessen pessimistischen Inhalt er jetzt schon Einblicke erlaubt hat: „Im Jahre 2020 werden etwa 12 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Die Biosphäre kann 12 Milliarden Menschen verkraften. Mehr nicht ... Die Grundursache des ganzen Elends auf der Welt ist die demographische Bombe.“ Es sind schreckliche Bilder von einer „menschlichen Sintflut“, die der polnische Autor entwirft. Diejenigen, denen es dann gelungen sei, sich in Rettungsboote zu flüchten, würden nicht zögern, den Nachkommenden „die Hände mit Äxten abzuschlagen. So etwas sei vielleicht noch unvorstellbar, aber warten Sie nur 30, 40 Jahre", orakelt die Kassandra aus Krakau und bietet als mögliche Erleichterung Zwangsmaßnahmen an, die vor allem in der Dritten Welt Empörung hervorrufen werden: "Es können synthetisch-hormonale Stoffe in den Ländern eingesetzt werden, in denen die Wachstumsrate zwei Prozent überschreitet ... durch einen biochemischen kryptomilitärischen Einsatz könnte. man das Bevölkerungswachstum regulieren. Man könnte die Östruszeit der Säuger bei den Menschen wieder neu einführen.“

Wenn ein hochintelligenter Kopf bereits solche biokratische Gewaltmaßnahmen erwägt, ist das eigentlich ein noch ernsteres Alarmzeichen als die Randale uniformierter hasserfüllter Jugendlicher, wie wir sie in Rostock und anderen Orten der ehemaligen DDR erlebt haben. Es verrät eine Einstellung, die aus Engstirnigkeit nur die Symptome der Krise zu bekämpfen versucht und die größeren komplexen Zusammenhänge vernachlässigt. Wer diese kennenlernen und verstehen will, kann bei der in Florida lebenden englischen Zukunftsdenkerin Hazel Henderson Rat finden. Nachdem sie vor einigen Jahren sehr eindrucksvoll ein kommendes „Solarzeitalter“ angekündigt hatte, entwirft sie in ihrem neuesten Werk „Paradigms of Progress" die Möglichkeiten eines noch umfassenderen (weil auch spirituell fundierten) „Zeitalters des Lichts“, welches die in die Endkrise geratene Epoche der rücksichtslosen Ausbeutung von Natur und Mensch im Dienste einer kurzsichtigen Wirtschaftlichkeit ablösen sollte. Eine Schlüsselrolle bei der Entschärfung der Überbevölkerungs-Bombe kommt nach ihrer Ansicht den Frauen zu. In allen Ländern, in denen ihr Bildungsgrad, ihre Lebenserwartung und ihre aktive Beteiligung an der Gemeinschaft besonders hoch sind, sei die Fruchtbarkeitsrate entschieden gesunken. Denn dort, wo die Gesundheit von Mutter und Kind am besten geschützt, und damit das Überleben der Nachkommen gesichert seien, verzichte man eher darauf, sich durch die Zeugung eines zahlreichen Nachwuchses abzusichern. Die Konflikte zwischen Arm und Reich können entschärft oder sogar vermieden werden, meint Hazel Henderson, wenn das Wachsen der Wüsten, vor allem in Ländern der Dritten Welt, durch ein globales Programm zur Regeneration der Natur abgelöst würde. Das Pflanzen zahlloser Bäume, eine Tätigkeit, an der sich möglichst viele einzelne Bürger beteiligen sollten, müsse eine „vorrangige Strategie in den 90er Jahren“ werden. Investieren sollte man nach den neuesten Erkenntnissen fortschrittlicher Nationalökonomen vor allem in „ökologische Wiederherstellung und soziale Programme". Ein hervorragender Platz wäre neuen unschändlichen Technologien einzuräumen, die vor allem durch Nachahmung der von der Natur gewählten Verfahrensweisen gekennzeichnet sind, und bereits unter dem Sammelbegriff „Biomimetics“ in amerikanischen Laboratorien entwickelt werden. All das dürfte aber nicht ausreichen, wenn die Menschen und, Länder, die im materiellen Überfluss leben, es nicht schaffen, sich andere befriedigendere Fortschrittsziele als die Herstellung und den Besitz von möglichst vielen Waren zu setzen. Denn nur dann werden sie imstande sein, den Milliarden Benachteiligten gerecht zu werden. Ein solches Ziel könnte zum Beispiel der von Hazel Henderson zitierte detaillierte Zehnjahresplan sein, den die Mitarbeiter des „World Games Institute“ (Philadelphia, 3508 Market Street) kürzlich vorgestellt haben. Seine Vorhaben reichen von Maßnahmen zur Stabilisierung der Bevölkerung über ein weltweites Wohnungsprogramm und eine energische globale Entwicklung erneuerbarer Energiequellen bis hin zu einem wirksamen „Antihungerprogramm“, und würde in einer einzigen Dekade mit einem Viertel der jährlichen Militärausgaben eine friedliche Zukunft vorbereiten, wie wir sie uns fast alle wünschen. 

Vgl.: Klaus Dermutz:  Beim Ticken der Wachstumsbombe.  Ein Gespräch mit Stanislaw Lem über die Abschaffung der Zukunft. In: Frankfurter Rundschau v. 22.8.1992.

Hazel Henderson: Paradigms in Progress. Life Beyond Economics. Indianapolis: Knowledge System, 1991. 293 S.