Wir besitzen alle ein Zeitbudget von 24 Stunden pro Tag, also entspricht die Redewendung "Ich habe keine Zeit" nicht der Wahrheit. Die Frage ist vielmehr, ob bzw. wie die zur Verfügung stehende Zeit auch sinnvoll genutzt wird. Einem sorgsamen Umgang mit ihr stehen sogenannte Zeitraffer (Massenmedien, Leistungswahn, Modetrends, Jugendkult u.a. m.) entgegen. Mit diesem Phänomen des „Zeitraubs" beschäftigt sich die Publizistin Ruth Martin. Es beginnt, so die Autorin, mit der Überbetriebsamkeit. die die Menschen befällt aus Angst, sich mit sich selbst zu beschäftigen, aus Angst vor der eigenen inneren Leere und dem Gefühl, etwas zu versäumen. Dadurch verliert man das Bewußtsein für das, was eigentlich wichtig ist und verfällt den Zeitraffern. Kritik übt Ruth Martin u.a. am Fernsehen, dem besten Beispiel für die Zeitverschwendung durch Ablenkung, und am Fortschrittswahn. der uns in eine apokalyptische Situation hineinmanövriert. Sie sieht in der gegenwärtigen Notsituation eine besondere Tragik, "daß ausgerechnet der um seine sozialen Fähigkeiten geplünderte Mensch vor der Aufgabe steht, jenen Zerstörungen seiner Umwelt entgegenzuwirken, die er selbst durch dieses rücksichtslose, ausbeuterische Verhalten verursacht hat". Weiters problematisiert die Autorin die Pseudo-Emanzipation als Selbstentfremdung, das Politikerverhalten als Verbreiten von "Worthülsen" oder die "Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität" und stellt fest, daß dieses Fehlverhalten Zeitvergeudung verursacht, während wir uns im Wettlauf mit der Zeit befinden, unsere Überlebenschancen zu erhalten. Nach einer sehr eindringlichen Auflistung gefährlicher Tendenzen kommt Ruth Martin schließlich zu konkreten Vorschlägen gegen die Verkümmerung der Liebes- und Erlebnisfähigkeit der Menschen. Sie fordert neben Maßnahmen für den Umweltschutz solche für den Innenweltschutz. "Eine Kommission für Ethik, wie sie für die Ärzteschaft bereits besteht, sollte für alle Lebensbereiche als Orientierungshilfe zuständig sein, damit der Plünderung des Menschen gezielt Einhalt geboten werden kann." Solange jeder noch so geringfügige Verzicht als unzumutbare Bedrohung des Lebensstandards empfunden wird, so die Autorin, kann sich kaum etwas zum Besseren wenden. Dem emotionalen Wohlbefinden ist künftig absolute Priorität einzuräumen. Der "homo sentiens" muß sowohl das Selbst-Gefühl als auch das Mit-Gefühl verkörpern. "Liebe darf nicht länger als Zeit-Ballast betrachtet werden." A. A.
Martin, Ruth: Zeitraffer. Der geplünderte Mensch. Frankfurt/M.: Krüger, 1993. 234 S., DM 29,80 / sFr 25,30/ öS 232,40