Jenny Odell

Saving Time

Ausgabe: 2023 | 4
Saving Time

Unsere heutige Zeit ist chronologisch, tickt in Sekunden, Minuten und Stunden herunter und bestimmt damit den Rhythmus unseres Lebens. Dieser Umgang ist sozial konstruiert und bestimmt, welche Möglichkeiten wir sehen und damit auch, wie wir uns durch das Leben bewege. In „Saving Time“ will Odell uns daran erinnern, welche Zeitgeber (Einflüsse, die die innere Uhr von Subjekten bestimmen) es neben unserem chronologischen Verständnis gibt.

Unsere Zeitwahrnehmung ist konstruiert und nicht allzu alt

Die Zeit, wir wie sie heute wahrnehmen, ist noch recht jung. Erste Hinweise findet Odell bei der Organisation des Betens der Mönche Papst Benedikts im 6. Jahrhundert. Basierend darauf wurden bereits Arbeitskräfte für die Farmen und Minen eingestellt. Später findet sich diese Form der effektiven Zeiteinteilung in perfider Form auf den Sklav:innenenplantagen wieder. Spätestens hier zeigt sich auch, was „Zeit ist Geld“ noch bedeutet: wessen Zeit wem gehört und wessen Zeit wie viel Wert hat – und wie damit bestehende Machtverhältnisse zementiert werden. So überrascht es auch nicht, dass Lohnarbeit lange mit Prostitution oder Sklav:innenarbeit verbunden wurde und für das Gros der Gesellschaft keine Rolle spielte – bis der Taylorismus das Modell salonfähig machte. Heute ist Lohnarbeit gängige Praxis und der kapitalistische Zeitgeber hat enormen Raum bekommen: „I have my time, and you have yours, and we sell it on the marketplace. Now it’s not just the employer who sees you as a twenty-four-hours of personified labor time; it’s you, too, when you look in the mirror“ (S. 42). Es geht in diesen Verhältnissen nicht nur darum, wessen Zeit quantitativ wo eingesetzt wird und wie viel Geld produziert, es geht vor allem auch um die Qualität dieser Zeitwahrnehmung – um Disziplin und Kontrolle.

Diese Qualität dringt tief in unser Selbst: Wir managen uns und unsere Zeit selbst und versuchen so einen ermächtigenden Moment zu schaffen, welcher der Disziplinierung und Kontrolle von außen entgegenzustehen sucht. So entsteht der totale Wettbewerb mit allen anderen und sich selbst – und das schafft große Ungleichheiten: „not all minutes are made equally“ (S. 56). Ein Manager kann anders über seine Zeit verfügen als eine Managerin, die zugleich Mutter ist, so das Beispiel. Denn beide haben verschiedene Zeitgeber, denen sie gerecht werden müssen, da sie unsere Zeit strukturieren. Doch Odell warnt davor, dieses Problem auf eines der Menschen, die in der Hierarchie unten stehen, zu reduzieren, denn am Ende stehen wir alle in einem Zeitgeber-Spannungsfeld.

Chronodiversität sehen oder nicht sehen

Odell argumentiert für die Wiederwahrnehmung der Vielfalt an Zeitgebern. Sie möchte die Parallelität zum Rest der Welt auflösen, die uns die kapitalistische Zeitwahrnehmung beschert hat: In dieser Parallelität ist ein Waldbrand eine zu bekämpfende Bedrohung, statt ein Ereignis im Rhythmus der Natur; und eine Mutter muss leisten, was Kinderlose schaffen. In dieser Parallelität können wir scheinbar agieren, regieren und produzieren, im Glauben, dass die Konsequenzen nicht damit zusammenhängen; aus dieser Parallelität entsteht eine Arroganz, die Natur und Naturvölkern die „Agency“ (die Fähigkeit eine Handlung zu initiieren) abspricht – sie würden der Zeit machtlos folgen, statt sie selbst zu füllen. Man spricht diesen Menschen und den Naturelementen schlicht ihren Subjektstatus ab und das erklärt den ausbeuterischen Umgang mit ihnen.

Doch wir alle bewohnen die Zeit: Lebewesen, Natur, Feuer oder Unwetter. Die Akzeptanz, dass sich alles in einer Kontinuität bewegt, die sich unserer Kontrolle entzieht, ist eine entlastende – keine unterwerfende. Vielleicht ist es an der Zeit, dass der Mensch seinen Platz im Gesamten wieder einnimmt, statt sich seine eigene, reduzierte Realität zu schaffen und diese pseudo-rational auf die Welt zu übertragen und damit unsere Wahrnehmung der Welt und uns in ihr effektiv zu degenerieren: „The world is ending – but which world? Consider that many worlds have ended, just as many worlds have been born and are about to be born. Consider that there is nothing a priori about them. Just as a thought experiment, imagine that you were not born at the end of time, but actually at the exact right time, that you might grow up to be, as the poet Chen Chen writes, ‚a season from the planet / of planet-sized storms.’ Hallucinate a scenario, hallucinate yourself in it. Then tell me what you see“ (S. 187).

Und so führt Odell in diesem Werk fort, was sie in „Nichts Tun“ begonnen hat: Sie fordert uns auf, die ausgetretenen Wege der kapitalistischen Zeitwahrnehmung zu verlassen, die Chronodiversität wahrzunehmen und so unseren Platz in der Welt erkennen zu können – mit und in ihr, nicht über ihr oder außerhalb.