Wegmarken der Geschichtswissenschaft

Ausgabe: 1989 | 1

Die Machtverhältnisse im kulturellen Leben liegen nicht immer klar zutage, sind aber nicht weniger effizient wie in der Politik. Die beste Begabung kann keinen Erfolg erringen, wenn sie nicht mit Macht und Autorität verbunden ist. Selbst die' Überzeugungskraft von Argumenten hängt von der Machtposition, der Stellung innerhalb der Hierarchie ab. Wer unten oder gar außerhalb der Hierarchie angesiedelt ist, kann sich noch so sehr anstrengen, er ist trotzdem zum Scheitern verurteilt. Der Künstler leidet an der Wirklichkeit und baut sich darum seine eigene Realität auf. Dies trägt ihm häufig den Vorwurf der Wehleidigkeit und Weltflucht ein. Aber um in diesen Ruf zu kommen, muß man schon eine gewisse Höhe erklommen haben. Wer nicht einmal' als Künstler anerkannt ist, hat keine Chance, daß seine Schmerzen und Leiden je bemerkt werden. Die Kunst und insbesondere die Literatur darf durchaus ein bißchen kritisch sein, aber nur solange sich die Kritik im Rahmen des bekannten Affirmativsystems hält. Das eigentlich Kritische dagegen, das die Gesellschaft transzendiert und grundlegend neue Auffassungsweisen bringt, wird kaum registriert, es wird vom geistigen Establishment beiseitegeschoben und verschwindet in der Versenkung. "Ist die Abweichung ... kalkulierbar, wird das entsprechende Werk rekuperiert. Das Andere ... wird Ausschuß, Abfall." Die "brauchbare" Kritik wird mühelos verkraftet und absorbiert und als Alibi für die Freiheitlichkeit verwendet. "Die retirierende (Weiter-)Verwendung bekannter, erwünschter und akzeptierter Verhaltensweisen ... ist ideologisch privilegiert." Eine Kritik, die dieses System überschreitet, wird erstickt" und mundtot gemacht. So ergibt sich in der Künstlerschaft "eine stumme Solidarität real verfolgter Psychotiker ... Ihre Texte werden nie zu Gehör gebracht werden, nie lesbar werden".
Unter diesen Voraussetzungen dient die Kunst zuletzt nur als Antidepressivum, als Mittel "gegen Traurigkeit, Versagen und Verzweiflung". Wenn das Schreiben eines Autors nicht beachtet wird, erfüllt es immer noch den Zweck, der eigenen Tristesse Herr zu werden. Ein sehr hellsichtiges Buch, das sich um die Entlarvung der Machtstrukturen im Geistesleben der westlichen Welt -bemüht. Freud, Derrida und österreichische Romanschriftsteller werden häufig als Belege benutzt. Leider wird die Lesbarkeit des Werkes durch die unsystematische Darstellung, die ungepflegte Syntax, die ständigen Einklammerungen und immer wiederkehrende französische Wortfetzen stark beeinträchtigt. Aber die darin aufgeworfene Frage, inwieweit die Kunst auf die Gesellschaft einen Einfluß haben könne, ist wichtig und sollte immer wieder diskutiert werden.

Schmid, Georg: Die Spur und die Trasse. (Post-)Moderne Wegmarken der Geschichtswissenschaft. Wien: Böhlau, 1988, 376 S.