Für ihr Kunstgeschichtsstudium hatte sich Katy Hessel bereits 2015 mit der amerikanischen Malerin Alice Neel beschäftigt, die erst mit über 70 Jahren vom Kunstestablishment als bedeutende Künstlerin anerkannt wurde. In Kombination mit anderen Beobachtungen – etwa einer Kunstmesse, die ausschließlich Künstler zeigte – fiel Hessel in dem Zusammenhang die „gewaltige Unterrepräsentation von Frauen in der Kunstszene auf. Sie wurden nicht in Galerien angeboten, sie hingen nicht in Museen, fehlten in Ausstellungen und in der Literatur“ (S. 9). Die mangelnde Anerkennung von Künstlerinnen ist keine neue Beobachtung, Hessel verweist beispielhaft auf den 1971 erschienen Essay von Linda Nochlins „Why Have There Been No Great Women Artists?“, der die Thematik fokussiert. Verändert hat sich nicht besonders viel, eigentlich kaum etwas. Auch wenn Fortschritte dadurch erkennbar sind, dass sich zahlreiche Kunsthistoriker:innen und Kurator:innen um einen Wandel des kulturell tradierten Kunstverständnisses bemühen, die Statistiken von in Sammlungen oder Ausstellungen vertretenen Künstler:innen sind in Bezug auf Ausgewogenheit nach wie vor mehr als verbesserungswürdig, Hessel nennt es schockierend.
Den bestehenden Kanon aufbrechen
Hessel erkennt in dem Kanon, mit dem sie aufgewachsen ist, eine Erzählweise, die durchgängig männlichen wie westlichen Positionen Priorität zuspricht und damit verunmöglicht, Kunst in ihrer eigentlich existierenden Bandbreite zu verstehen. Mit dem vorliegenden Band möchte die Autorin einen Beitrag dazu leisten, den systemisch gewachsenen Zustand aufzubrechen. Ziel ist dabei glücklicherweise nicht die Unmöglichkeit einer verbindlichen Chronik. Hessel möchte das Bekannte ergänzen, und das gelingt ihr mit „The Story of Art without Men. Große Künstlerinnen und ihre Werke“ ganz hervorragend.
Weit über 300 Künstlerinnen versammelt die Autorin auf 512 übersichtlichen Seiten, veranschaulicht das Geschriebene dabei mit 317 Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen und schließt den Band mit drei grafisch aufbereiteten Doppelseiten ab, die in Bezug auf Chronologie und stilistische Einordnung einen sinnvollen und willkommenen Überblick zu den genannten Namen geben. Für die Struktur des Hauptteils wird eine Gliederung in fünf Teile gewählt, die sich, so Hessel, auf signifikante Umbrüche und Momente konzentrieren, überwiegend in der westlichen Kunstgeschichte: „Wegebereiterinnen (um 1500-1900)“, „Das Moderne an der Kunst (um 1870-1950), „Nachkriegsfrauen (um 1945-1970), „Inbesitznahme (1970-2000)“, „Die Kunstgeschichte wird weitergeschrieben (2000 bis heute)“.
Das Moderne in der Kunst
Welche Beispiele auswählen bei einer so umfassenden Zusammenschau? Bleiben wir bei der Einheit „Moderne in der Kunst“ und streifen einige der genannten Fotografinnen, etwa Claude Cahun, Gertrud Arndt, Dora Maar, Lee Miller und Dorothea Lange, die alle in ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit eigene Räume erschlossen haben und neue Perspektiven auf die Welt ermöglichten. Claude Cahun (1894-1954) war etwa, so Hessel, eigentlich im Paris der 1920er-Jahre für ihr Schreiben bekannt, experimentierte aber auch mit der Kamera, erforschte mittels Selbstporträts gerade die Themen Geschlecht und Identität, spielte mit Aufnahmen der eigenen Transformation und riss damit gesetzte Grenzen ein. Auch Gertrude Arndt (1903-2000) setzte sich mittels Verkleidungen mit Formen der individuellen Wandelbarkeit auseinander, dabei jedoch stets geleitet „vom experimentierfreudigen, produktiven Bauhausgeist“ (S. 168). Dora Maar (1907-1997) wiederum „fing mit ihren gothichaften Bildern den Zeitgeist ein“ (S. 172) und galt dabei im Bereich Fotografie und Fotomontage als führende Persönlichkeit des Surrealismus. Ihre Bilder werden dabei auch als einige der ersten Beispiele der sogenannten Straßenfotografie verstanden, wobei verschiedenste Subjekte und Stile in ihrer Arbeit zu finden sind, ein Umstand den Hessel auch bei Lee Miller (1907-1977) ausmacht: Lee dokumentierte mit einem surrealistischen Blick „die erstickende Realität von Frauen in den 1930ern“ (S. 175), aber auch Wüstenszenen, arbeitete schließlich als Kriegsreporterin, zeigte Frauen im Krieg und das Grauen der deutschen Konzentrationslager. Als Dokumentationsfotografin arbeitete auch Dorothea Lange (1895-1965), die in den USA der 1930er in Form von intimen Aufnahmen einen sozialen Realismus festhielt, der sich durch dramatische Umstände auszeichnete.
Ein empfehlenswerter Band
Katy Hessel präsentiert eine wunderbare Zusammenstellung an Künstlerinnen, deren Namen und Werke kaum oder gar nicht im öffentlichen Diskurs zu finden sind. Sprachlich wie gestalterisch bietet sie eine überzeugende Aufbereitung von Kunsthistorie und damit verwobenen soziopolitischen Entwicklungen, die zum immer wieder Durchblättern einlädt, die inspiriert, und die, wie von ihr angestrebt, vor allem das Bekannte ergänzt.