Werden Rituale im 21. Jahrhundert obsolet, und was macht das langsame Verschwinden des Altbekannten mit Individuen und Gesellschaften? Byung-Chul Han sucht in seinem neuen Essay nach Antworten und stößt so eine philosophische Reflexion über den Wert des ritualisierten Handelns an. Riten, so Byung-Chul, erlauben es uns, in einer stets auf Produktion ausgerichteten Welt etwas von Bestand zu erleben. Sowohl Auslöser als auch Symptom des Verblassens von Ritualen liegt für den Philosophen auch im ständigen Drang nach Optimierung und Erneuerung – vom Gebrauchsgegenstand bis hin zur eigenen Person.
Etwa im Bereich des veränderten Konsumverhaltens sind zwei Faktoren ausschlaggebend: Dinge werden nicht mehr gebraucht, sondern verbraucht und sind zudem mit künstlichen Emotionen überladen. Statt dem einen Auto, das über viele Jahre hinweg zum Weggefährten wird, tauschen wir das Leasingauto regelmäßig gegen das neuere Modell ein, denn das macht – so die Botschaft aus dem Fernseher – den Kunden männlicher, die Familie glücklicher und die Frau erfolgreicher. „Dinge kann man nicht unendlich konsumieren, Emotionen aber schon. […] Gesucht wird nach emotionaler Authentizität“ (S. 13).
Während diese verlorene Authentizität durch künstlich romantisierte Einkaufsexzesse kompensiert wird, führt die Konsumdoktrin zu folgereichen Veränderungen, auch auf individueller Ebene: Denn nicht nur Handelswaren, auch Menschen müssen durch Einzigartigkeit überzeugen. Was zählt sind Leistung durch Lohnarbeit und andauernde Erfolge, die es gegen die Konkurrenz zu behaupten gilt.
Im Verschwinden der Rituale ortet der Autor ein Zeichen für den „Verfall des Sozialen“ (S. 27). Denn, während der öffentliche Raum lange als Bühne für ritualisiertes Rollenspiel galt, beginnt diese Sphäre zu erodieren. „Die Welt ist heute kein Theater, in dem Rollen gespielt und rituelle Gesten ausgetauscht werden, sondern ein Markt, auf dem man sich entblößt und ausstellt.“ (S. 30)
Die im Buch beschriebenen Traditionen verdeutlichen nicht nur ihren Wert, sondern machen für die Wirkung des Rituellen im Alltag sensibler. Das Essay ist eine Reise durch gelebte und längst vergessene Traditionen und zeichnet den Zusammenhang vom Verschwinden der Rituale mit einer Gegenwart geprägt von Leistung, Konsum und Konkurrenz nach.