Neues Museum (Hg.)

Was, wenn...?

Ausgabe: 2021 | 4
Was, wenn...?

Was, wenn eine Fotografie einer sizilianischen Insel im Maßstab 1:1 vergrößert auf PVC-Bahnen gedruckt würde? Was, wenn es ein weltweites U-Bahn-Netz geben würde? Was, wenn man eine Ausstellung nicht über den Haupteingang, sondern über die Hintertreppe betreten würde?

Neben diesen realisierten oder imaginierten Szenarien von Paola Pivi, Martin Kippenberg und dem Architekturkollektiv Traumnovelle waren 2020 im Neuen Museum Nürnberg auch Arbeiten von Nam June Paik, Joseph Beuys, Céline Condorelli, Cao Fei, Peter Fischli, David Weiss u. v. m. zu sehen. Die von Franziska Stöhr kuratierte interdisziplinäre Ausstellung „Was, wenn…? Zum Utopischen in Kunst, Architektur und Design“ war den Potentialitäten des Utopischen gewidmet. Selbst, oder gerade, wenn man die Ausstellung nicht gesehen hat, ist die gleichnamige, begleitende Veröffentlichung – die mehr als ein Katalog zur Ausstellung ist und als eigenständiges Werk funktioniert – sehr lesenswert und gibt umfassende Einblicke in die Imaginationen des Utopischen. Die Publikation folgt dabei in sechs Kapiteln dem thematischen Raumkonzept der Ausstellung und den 27 dort gezeigten Positionen.

Alternative Realität vorstellen

Die Möglichkeitsform des „What if …?“ regt dazu an, sich alternative Realitäten vorzustellen. Eva Kraus schreibt im Vorwort, dass aktuell eine Wiederaufnahme von Fragestellungen rund um Momente des Utopischen zu bemerken sei und begründet dies mit gesellschaftlichen Transformationen, die viel Unsicherheit erzeugen würden. Im Rahmen der Ausstellung solle darauf mit neuen Möglichkeitsräumen reagiert und gleichzeitig ein Dialog mit Diskursen aus den 1960er- und 1970er-Jahren angeregt werden.

Franziska Stöhr erlebt in der umfangreichen Begriffsgeschichte des Utopie-Begriffs das Verhältnis von Imagination und Umsetzung als wesentlich. Bereits in Thomas Morus‘ Utopia sei die Utopie von Ambiguität geprägt gewesen und sei auch – gerade, wenn es um die Realisierbarkeit oder totalitären Tendenzen ging – häufig kritisch diskutiert worden.

Potentiale neuer utopischer Modelle

In der Ausstellung liegt der Fokus aber auf den Potentialen neuer utopischer Modelle und der Frage danach, wie mittels innovativer utopischer Konzepte Gegenentwürfe und Vorschläge zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme gedacht werden können. Bei einer Utopie sei dabei nicht mehr von einer vollkommenen Gesellschaft auszugehen, sondern von einer besseren. Entwürfe dafür müssen „in einer globalisierten Welt, deren Fragestellungen und Ziele immer komplexer werden, Teilüberlegungen sein“ (S. 31). In der Ausstellung wird Utopie als Freiraum gedacht, der – zunächst unabhängig von der Realisierbarkeit – das Entwerfen und Erproben von Zukunftsmodellen zulässt. Kunst, Design und Architektur werden dabei als kreative Motoren für alternative Denkmodelle begriffen. Sowohl in der Ausstellung als auch in der konzisen und ästhetisch gestalteten Veröffentlichung wird der Fokus nicht auf dystopische Momente gelegt, sondern auf inspirierende und optimistische Zukunftskonzepte. Jene wollen aber nicht mehr im Idealen und schon recht nicht im Totalitären gefunden werden, sondern in individuellen Systemen. „Die Utopie, so die These der Ausstellung, ist nicht das Ziel, sondern eine Methode.“ (S.11)