Jan-Werner Müller

Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit

Ausgabe: 2021 | 4
Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit

Jan-Werner Müllers Buch beginnt dort, wo derzeit andere Bücher über Demokratie auch beginnen, bei einem Krisenbefund. Von der aktuellen Demokratie-Malaise hebt es sich aber in zweifacher Weise wohltuend ab. Es ruft ein erfrischend trockenes „Don’t panic!“ aus, indem es daran erinnert, dass Menschen ja möglicherweise gerne in einer Demokratie leben, um dann eine einfache Definition zu liefern, was Demokratie ist.

Populismus, Freiheit, Gleichheit

Jan-Werner Müller ist vor allem für seine Arbeit zu Populismus und Autoritarismus bekannt. Für ihn ist Populismus vor allem an seinem selten auf echten Mehrheiten beruhenden Alleinvertretungsanspruch erkennbar. Dort beginnt auch das Buch. Müller beschreibt „autoritär-populistische Regierungskunst“ als Methodenmix aus Nationalismus, Mafiastaat (Bálint Magyar) und wirtschaftlichem Einfluss als Waffe gegen

Dissident:innen, Opposition und Medien. Populist:innen betreiben nach Müller ein doppeltes Spiel. Sie stellen sich als einzig legitime Deuter:innen eines unterstellten homogenen Volkswillens dar und instrumentalisieren gleichzeitig die realen gesellschaftlichen Spannungen mit dem Ziel der fortwährenden Spaltung und Polarisierung der Bevölkerung. Doch die ist nach Müller nicht so leicht zu lenken. „Offenbar entscheiden nicht die irrationalen Massen, die Demokratie abzuschaffen, sondern bestimmte Eliten“ (S. 12). Die „wachsende Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte“ (S. 42), die letztendlich bewirkt, dass Mehrheiten demokratische Defizite bei ihrer Partei zunehmend in Kauf zu nehmen bereits sind, führe so zu einer „zweifachen Sezession“. Anhand des Dotcom-Unternehmers Peter Thiel illustriert Müller die Absetzbewegung der Superreichen aus der (vor allem steuerlich motivierten) gesamtgesellschaftlichen Verantwortung durch massive Einflussnahme auf die Gesetzgebung, die mit der resignierten Abwendung einer steigenden Zahl „von Bürgern am unteren Ende des Einkommensspektrums“ (S. 50) von der Politik (und vom Wählen) einhergeht. „Die Folge ist ein Teufelskreis, der politische Eliten und ärmere Bürger immer weiter voneinander entfernt; […] Politischer Wettbewerb nimmt ab, während ökonomischer Wettbewerb unter den Bürgerinnen und Bürgern immer weiter wächst“ (S. 51).

Dem stellt der Autor unter Berufung auf die beiden Prinzipien Gleichheit und Freiheit eine radikal (im Sinne von an die Wurzel zurück-

gehende) demokratische Sichtweise entgegen. Aus der Gleichheit entwickelt Müller eine von ihm so bezeichnete „harte Grenze“, denn Mitbürger:innen dürften nicht einfach aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder ihrer Beteiligungsrechte beraubt werden. Die trotzdem legitime Frage nach der Grenze zwischen drinnen und draußen, die sich in jedem Staat stellt, ist konsequenterweise im demokratischen Wettbewerb offenzuhalten. Hier kommt die Freiheit ins Spiel, denn ausgehend von grundrechtlich abgesicherten Freiheitsräumen können Bürger:innen nicht nur zwischen verschiedenen politischen Antworten wählen, sie können auch selber neue Fragen stellen. Gerade dieser letzte Punkt erscheint besonders bedeutsam, denn das Aufzeigen neuer Konfliktlinien (ökologischer anstatt wirtschaftlicher Generationenkonflikt), das Ansprechen bisher unausgesprochener Ungerechtigkeiten (Black Lives Matter, MeToo) und da-mit der Erhalt der Friedensfunktion könnte weder von einem vielleicht besseren Auswahlverfahren noch von einer vielleicht vernünftigeren Expert:innenregierung geleistet werden.  Müller führt zwei Institutionen an, die zur Absicherung dieser Prinzipien unerlässlich sind: Politische Parteien und Medien, die miteinander die „kritische Infrastruktur“ der Demokratie bilden.

Die Frage nach Rahmenbedingungen

„Parteien wollen primär Wahlen gewinnen und Medienunternehmer Geld verdienen“ (S. 127). Ob dies mit ihrer Aufgabe, nämlich der inhaltlichen und zeitlichen Schaffung, Strukturierung – und stets vorläufigen Entscheidung – politischer Streitfragen, vereinbar ist, hängt dem Buch zufolge von den Rahmenbedingungen ab. Müller plädiert hier für einen internen und externen Pluralismus sowohl der Parteien- als auch der Medienlandschaft und meint damit Vielfalt des Angebots und interne Diversität. Er nennt mit Zugänglichkeit, Autonomie und Einschätzbarkeit drei Kriterien für das Funktionieren einer  elementaren Demokratie-Infrastruktur. Hinsichtlich der daraus resultierenden Problemstellungen etwa im Bereich der Parteien- und Medienfinanzierung oder der Parteikartelle präsentiert das Buch interessante Alternativmodelle und neue Ansätze. Schließlich wirft Müller auch die Frage nach dem theoretischen Paradoxon auf, dass sich Demokratie per Mehrheitsentscheid selbst abschaffen kann und warnt vor der Versuchung, aus Angst da-vor zu undemokratischen Maßnahmen zu greifen. Anregend sind hier die Reflexionen über zivilen Ungehorsam als letztes Mittel zur Rettung der Demokratie.