Veith Selk

Demokratiedämmerung

Ausgabe: 2025 | 1
Demokratiedämmerung

Wir machen uns etwas vor, zumindest, wenn es um die Demokratie geht, schreibt der an der Technischen Universität Darmstadt – und derzeit an der WU Wien – lehrende Politikwissenschafter und Soziologe Veith Selk in seinem neuesten Werk. Selks zentrale These lautet, die Demokratie, selbst ein Kind der Moderne, wird durch die soziopolitische Entwicklung und den fortlaufenden Prozess der Modernisierung selbst anachronistisch. Dieses von Selk als „Devolution“ bezeichnete Obsoletwerden führt er auf vier Prozesse zurück, die die Bestandsbedingungen demokratischer Herrschaft, also der Selbstregierung der Freien und Gleichen, in weiterer Zukunft unerfüllbar machten.

Über Legitimationsprobleme

Zunächst erzeugt eine intensivierte Politisierung aufgrund fehlender sozial breiter Inklusion in die Willensbildung und des Übergreifens auf die Demokratie selbst Legitimationsprobleme. „Gegenwärtig können nahezu alle Themen und Sachbereiche als politisches Problem behandelt werden. Politik dringt bis in die letzten Winkel des Privaten vor“ (S. 31). Letztendlich würden die demokratischen Entscheidungsverfahren selbst Gegenstand der politischen Debatte und büßten an Legitimationsleistung ein.

Des Weiteren lasse die Zunahme von Differenzierung und Komplexität, also die Zunahme der politischen Akteure sowie der dadurch bedingten Variablen das politische Leben in Demokratien opak werden, zersetze den demokratischen Gemeinsinn und löse die bürgerschaftliche Wir-Identität auf. Dies wiederum verstärke die Legitimationskrise politischer Entscheidungen, sowohl auf der Input- als auch auf der Output-Seite. „Der Bürgerschaft erscheint die Politik, pointiert formuliert, entweder als ein undurchsichtiges und unfaires Machtspiel von Insidern oder als die Folge eines inkrementalistischen Krisenmanagements – aber nicht als die planvolle und zweckrationale Verwirklichung demokratisch entschiedener Ziele“ (S. 43).

Dies führe dazu, dass die Anforderungen an das Wissen der Bürger:innen über eigene Interessen und die Möglichkeit zu deren Umsetzung sowie über den politischen Prozess steigen und immer ungleicher verteilt werden. Selk verweist dazu auf das von Michael Th. Greven entwickelte Sartori-Kriterium zurück, wonach Demokratie „nur dann bestehen kann, wenn ihre Prinzipien, Institutionen und Prozesse von den Durchschnittsbürgern verstanden werden“ (S. 24).

Schließlich sei mit Globalisierung und neoliberalistischer Wirtschaftsordnung, deren marktwirtschaftlichen Notwendigkeiten noch dazu etwa in Gestalt der Europäischen Union durch Konstitutionalisierung zu einem „Gefängnis“ (Charles E. Lindblom) geworden seien, ein Schwund des Mittelstandes und eine Polarisierung der Bevölkerung in Modernisierungsgewinner:innen und -verlierer:innen zu verzeichnen, eine Entwicklung, der die Politik hilflos gegenüber stehe, weil die Gewinner:innen durch die Akkumulation von Machtmitteln oder Einsatz ihrer Investitionsmacht und damit Entscheidung über Arbeitsplätze grundlegende Änderungen dieser Dynamik zu verhindern wüssten.

Diese vier Entwicklungen führten zu epistemischer Intransparenz von Prozessen, politischer Unwirksamkeit der Bürger:innen als Gemeinwesen und institutioneller Heuchelei von Normendurchsetzung. Durch die Politikverflechtungen supra- und internationaler Governance-Systeme trete sodann ein „negativer Sperrklinkeneffekt“ ein, der eine Redemokratisierung der im Nationalstaat eingehängten Kerninstitutionen wie Parlamente, Parteien und öffentliche Meinung unter geteilten Wirklichkeitsbezug wirksam verhindere. Die überstaatliche Eben könnte zwar theoretisch demokratisiert werden, dem stünden aber ganz praktische Hindernisse wie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache entgegen.

Selk überträgt seine negative Bestandsaufnahme auf die Demokratietheorie als wissenschaftliche Disziplin. Diese sei freiheitsbedürftig und daher normativ an das Bestehen von Demokratien gebunden. Daher diagnostiziere sie zwar die beschriebenen Krisen, weiche der zwingenden Schlussfolgerung, nämlich dass Demokratie nicht mehr zu verwirklichen sei, durch verschiedene Strategien der Perennisierung, Entreicherung, Absolutstellung oder Durchhalteparolen aus.

Vergleich diverser Konzepte

Im ausgezeichnet gelungenen letzten Kapitel stellt Selk die von Michael Th. Greven entwickelte Erosionstheorie, auf die er sich methodisch bezieht, Ingolfur Blühdorns Entwurf einer simulativen Demokratie gegenüber, die für Selk, die „letzte, nicht mehr überschreitbare Reflexionsstufe der Demokratietheorie“ darstellt (S. 296). Schließlich identifiziert Selk die geteilte Krise der Demokratietheorie und -praxis Thomas Kuhn folgend als Paradigmenkrise, wobei das nächste wirkmächtige Paradigma noch nicht absehbar sei. Mit den Postcolonial Studies untersucht Selk – leider viel zu kurz – die Bedingungen für ein mögliches Nachfolgeparadigma mit entsprechender Wirkmächtigkeit.