Tanja Carstensen et al. (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus
Der aus hochkarätigen Beiträgen bestehende Sammelband „Theorien des digitalen Kapitalismus“ untersucht den Einfluss der expandierenden digitalen Möglichkeiten auf den Kapitalismus, was sich in Anbetracht der vielfältigen Ebenen als ambitioniertes Ziel präsentiert und den Herausgeber:innen Tanja Carstensen, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani hervorragend gelungen ist.
Die Expertin Ursula Huws geht in ihrem Beitrag zur sozialen Reproduktion im 21. Jahrhundert auf Entwicklungsschritte und Innovationssprünge im kapitalistischen System ein, wobei sie sich für ihre Analyse entlang dem marx’schen Verständnis von Kapitalismus bewegt. Ihr zufolge steht „die Hausarbeit im Epizentrum des Kapitalismus“ (S. 65), da etwa die zunehmende Externalisierung haushaltsnaher Tätigkeiten das System weiter am Laufen hält, indem durch zugekaufte Leistungen eine Erleichterung des Alltages versprochen wird und Kund:innen selbst mehr erwirtschaften müssen, um sich diese auch leisten zu können. Darüber hinaus zeigt sich vermehrt eine Vermischung der Gruppen, tatsächlich „sind 81 % derjenigen, die in der Erbringung von Haushaltsdienstleistungen tätig sind, auch Kund:innen dieser Dienstleistungen, während 91% derjenigen, die als Fahrer:innen oder Zusteller:innen für Online-Plattformen arbeiten, auch Kund:innen dieser Dienstleistungen sind. […] Es handelt sich jedoch um eine Arbeiter:innenklasse, die zunehmend atomisiert ist und deren Mitglieder sich gegenseitig nicht unbedingt als solche erkennen“ (S. 62). Einen Lösungsansatz sieht die Expertin in einer gut ausgebauten öffentlicher Daseinsvorsorge, welche auch mittels Plattformen organisiert werden kann, solange diese Technologien nicht auf Ausbeutung basieren, sondern demokratisch gestaltet sind. Emma Dowling skizziert in ihrem Beitrag die Gefahren, wenn die Care-Krise mittels (Pflege-)Plattformen gelöst wird. Ihre Sorge gilt vor allem der zunehmenden Privatisierung und den damit einhergehenden prekären Beschäftigungen. Die Professorin und Autorin Kylie Jarrett hat sich ebenfalls mit digitalen Industrien wie Plattformarbeit auseinandergesetzt, jedoch aus einem gänzlich anderen Blickwinkel: Jarrett zufolge führt digitale Tätigkeit zu einer Feminisierung der Arbeit, da zum einen „die für männliche Arbeit typische Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit, privatem und öffentlichen Raum“ (S. 80) nicht gilt und zum anderen digitale Arbeit auch mit einer stärkeren Einbindung der Subjektivität, Selbstreflexivität und Selbstregulierung „in Bezug auf das körperliche und ästhetische Verhalten“ (S. 81) einhergehe, was als Teil der „feminisierten Konsumkultur“ angesehen werden kann. Die weiteren Texte im Kapitel Arbeit skizzieren die Entwicklungen rund um die Plattformökonomie und konstatieren auch hier noch mehr Forschungsbedarf, insbesondere seit sich auch in diesem Bereich die Proteste der Arbeiter:innen mehren.
Der Autor und Dozent Nick Srnicek, befasst sich mit der Frage, ob KI eine zentralisierende Technologie ist und insbesondere „inwiefern KI heute die Konzentration von Kapital begünstigt“ (S. 187). Dabei zeigt sich, dass entgegen der weitläufigen Annahme nicht die Menge an verfügbaren Daten das wesentliche Element zur Etablierung einer monopolartigen Marktstellung sind, sondern vielmehr die Datenverarbeitungskapazität und Arbeitskraft die eigentlichen Wettbewerbsvorteile darstellen. Diese Faktoren erfordern jedoch ausreichend finanzielles Kapital, welches nur einer kleinen Gruppe an Unternehmen zur Verfügung steht und diesen die Möglichkeit bietet, nicht nur das Produkt an sich, sondern „Hardware, Software und sogar Daten für andere Unternehmen zur Verfügung“ (S. 191) zu stellen. Die Analyse von Srnicek wird von Philipp Staab weitergeführt, indem er untersucht, ob bzw. inwiefern sich die Marktform durch die führenden digitalen Unternehmen verändert hat. Staabs Theorie zum digitalen Kapitalismus zufolge „repräsentieren führende Plattformunternehmen ein digitales Produktionsmodell, welches eine signifikante Innovation in hochentwickelten, spätindustriellen Ökonomien darstellt. Der Begriff, den ich hierfür entwickelt habe, ist jener der ‚proprietären Märkte‘“ (S. 312).
Abschließend sei noch der Beitrag von Oliver Nachtwey, Johannes Truffer und Timo Seidl erwähnt, welcher sich mit dem Geist des digitalen Kapitalismus und dessen Ideengeschichte auseinandersetzt: dem Solutionismus. Technologieunternehmen finden demzufolge für alle Probleme der Welt Lösungen, der Ansporn der Unternehmen im Sillicon Valley ist nichts anderes, als ihre Vision einer guten Zukunft für alle zu realisieren – während die Tech-Firmen damit Gewinne machen. Ohne dem Technikskeptizismus zu verfallen, warnen die Experten doch vor verkürztem Lösungsdenken sowie einer Gefahr für demokratische Entscheidungen. Denn alles, „was die Handlungsfähigkeit der Digitalkonzerne beschneidet, schränkt damit auch ihre Kapazität zur Lösung der Menschheitsprobleme ein“ (S. 471).