Die jüngsten Ausführungen des derzeit wohl prominentesten Philosophen des deutschen Sprachraums über das geschichtsmächtige Zusammenwirken von Fantasie und zugreifender Weltgestaltung – Sloterdijk hat sie als Eröffnungsredner der Salzburger Festspiele 2001 in Teilen vorgestellt – verdienen eine vertiefende Reflexion abseits staatstragend inszenierter Feierlichkeit.
Auch wenn die insgesamt fünf „Stadien des Prinzips der Phantasie“ in erster Linie die Literatur als Ausdruck europäisch akzentuierter Weltaneignung zum Thema haben, sind sie doch auch ein wichtiger Beitrag zum Verständnis postmoderner Beliebigkeit, die uns heute beschäftigt und zu schaffen macht. Davon ausgehend, dass wir in einem „Zeitalter der Neutralisierungen“, am „Ende der Antithesenzeit“ leben, in der Gegensätze wie Gut und Böse ihren Dienst aufkündigen, skizziert Sloterdijk fünf epochenprägende „Poesien“.
Zum ersten jene Ovids, der mit seinen Metamorphosen „ an der Schwelle zu einem neuen Realitätszeitalter noch einmal alle Spuren einer älteren, verwandlungsmagischen Epoche einsammelt“ (S. 13). Ihr lässt Sloterdijk, ausgelöst von der Rationalität Platons, die „Poesie der Transzendenz“ im christlich mittelalterlichen Raum folgen. Vertikal, auf die Absolutheit Gottes hin ausgerichtet, sieht sie, so der Exeget, Träume, sinnliche Künste und Ideen als Teufelswerk und Versuchung. Ihr entkommt nur, wer sich dem „Ora et labora“ unterwirft, einer Haltung, die der Vortragende, exemplarisch formuliert, auch im Silicon Valley ausmacht, wo der Devise „Laß dem Delirium freien Lauf und mache Geld“ gefrönt wird.
An Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ und dem „Sturm“ beschreibt Sloterdijk als dritte Etappe seiner Tour d’horizont die „Poesie des Transports und der Überfahrt“ als Motor und Begleiter der von Europa ausgehenden Welterkundung und –unterwerfung. Hier wird „das Phantastische zur Poesie des ungewissen Profits und der vielversprechenden Ferne“. Zum Held der großen Erzählungen (und zur Projektionsfigur nicht nur der weiblichen Rezipienten) wird nun der Kaufmann, der aus fernen exotischen Ländern die wundersamsten Ingredienzien mit nach Hause bringt (worauf der Titel angespielt).
Nur knapp kommt Sloterdijk auf Beckett und die durch sein Werk repräsentierte Poesie der gescheiterten Wünsche“ zu sprechen, die von Resignation geprägt ist, auch wenn im jeden Europäer noch immer ein Goldsucher sitzt“ (S. 48), und: „... solange es den Weltmarkt gibt und die Glücksspiele, wie könnte da von einem Ende des Verlangens nach Neuzeit die Rede sein?“ (ebd.) Joyce schließlich sieht Sloterdijk als Meister der „Poesie der Komplexität“, auf Vorhandenes zurückgreift: „In der umrundeten, erfaßten, aufbereiteten Welt bleibt nur der Streit der Phantasiepartikel um Anteile am monitorialen Raum.“ (S. 49) Im „Kampf um Sichtbarkeit“ und der mit ihm einhergehenden „Verknappung von Aufmerksamkeit und Kaufkraft“ wird – und hier erinnert man sich an Marianne Gronemeyer (vgl. PZ Nr. 3/2000*327) – „nicht länger Neues gesucht, sondern Bekanntes rekombiniert: Die Bastardisierung von Mensch, Maschine und Zeichen ist im Gang“ (S. 53).
So anregend der in großem Bogen angelegte, brillant formulierte Essay auch ist, er fordert dort zum Widerspruch heraus, wo er mit dem Verweis auf das „Zeitalter der Neutralisierungen“ die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Orientierung in einem (universal) verbindlichen Wertesystem verneint. An der Frage, was gut und böse, was zu tun und was zu unterlassen ist, kommen wir nicht vorbei. W. Sp.
Sloterdijk, Peter: Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. 54 S., xy DM 10,– / sFr / öS 73,–