Die emeritierte Wiener Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik (W.-S.) präsentiert in diesem auffällig gestalteten Bändchen weitere Überlegungen zur geopolitischen Zukunft der Welt. Erneut wird das Narrativ der bestehenden Weltmacht USA gegen die aufstrebende Weltmacht der Volksrepublik China aufgespannt und diskutiert. Das Werk besteht aus vier knappen Kapiteln zu folgenden Themen: Chinas Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die Dreiecksbeziehung zwischen China, Russland und den USA sowie die Rolle der EU, einerseits im Hinblick auf China im Speziellen und andererseits im Bereich internationaler Beziehungen im Allgemeinen.
Griffe Thesen auf engem Raum
Der Autorin gelingt es auf engem Raum, griffige Thesen zu formulieren und mit nachvollziehbaren Argumenten zu unterfüttern. Besonders lohnenswert sind ihre Überlegungen zur Rolle Chinas im Ukraine-Konflikt. Grundsätzlich sieht China die Schuld für den Krieg bei der NATO, deren Osterweiterung die Sicherheitsinteressen Russlands bedrohe. Ebenso sicherte Xi Jinping Russland grenzenlose Freundschaft zu, wie die letzten Worte Xis an Putin nach dem Treffen in Moskau im März 2023 zeigen: Man wolle gemeinsam den Wandel in der Welt vorantreiben.
Im vorliegenden Text finden sich den aufmerksamen Leser:innen valide Gegenargumente zu beobachteten Aussagen und Tätigkeiten Chinas. So betrachtet die Autorin China nicht vollständig als Aggressor, sondern eher in einer Mittelposition mit Verweis auf die Vertragstreue zur Ukraine. Intelligent ist die innenpolitische Argumentation, Xi sei in die Kriegspläne Putins nicht eingeweiht gewesen. Allerdings bleibt die Argumentation auf den Seiten 37–42 zu einem beobachteten Drängen Chinas auf einen „schnellen Waffenstillstand“ (S. 37) unklar. Es fehlen konkrete Konsequenzandrohungen an den russischen Freund, sollte der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine fortgesetzt werden. In diesem Kontext nennt die Autorin selbst das im Februar 2023 aufgesetzte 12-Punkte-Papier richtigerweise als nicht „gelungen“, China vertrete darin lediglich „seine eigenen Interessen an der Sache“ (S. 41).
Eher optimistisch bleibt sie in der Taiwanfrage. Schlüssig erklärt sie, dass China eine direkte Verbindung zwischen dem Krieg in der Ukraine und einem eventuellen Konflikt in Taiwan verhindern will und die Taiwanfrage als einen internen Konflikt betrachtet. Dies sind jedoch keine guten Neuigkeiten für die Bevölkerung Taiwans.
Beim Blick in die Geschichte der Volksrepublik fällt auf, dass die Kommunistische Partei selten zimperlich mit der eigenen Bevölkerung umging, wenn der langfristige Machterhalt der Partei auf dem Spiel stand (Großer Sprung nach vorn, Kulturrevolution, Ein-Kind-Politik, Massaker auf dem Tian'anmen-Platz). W.-S. geht auf diese Argumente kaum ein. Stattdessen bringt sie oft das Zeitargument ins Spiel: Irgendwann werde Taiwan für die USA unnütz werden, worauf man der Insel die Unterstützung versagen werde. Dies ignoriert jedoch erstens Xi Jinpings Aussagen, dass man das Problem nicht weiter auf kommende Generationen verschieben dürfe, sondern rasch handeln müsse. Zweitens übergeht sie die in diesem Kontext wiederholt vorgebrachte Ermahnung des Präsidenten, man müsse bis 2027 eine kriegsbereite Volksbefreiungsarmee vorweisen können. Drittens geht sie kaum auf die von der Gegenseite vorgebrachten innenpolitischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Argumente ein. Der von ihr in anderen Publikationen und Interviews vorgebrachte Punkt der Wichtigkeit der taiwanesischen Tiefseehäfen für die U-Boot-Flotte etwa fehlt gänzlich.
Der stärkste Teil des Buches ist Teil 2, in dem es W.-S. gelingt, die für pragmatische Realist:innen typischen spieltheoretischen Überlegungen der globalen Großmachtpolitik zu analysieren und verschiedene Szenarien im Dreieck Russland, USA und China zu durchdenken und zu hinterfragen. Besonders die Seitenwechsel der Kommunistischen Partei Chinas weg von der Sowjetunion hin zu den USA und dann wieder zurück werden intelligent und nachvollziehbar aufgezeigt.
Ein empfehlenswertes Bändchen
Das Buch endet mit zwei Kapiteln, die jeweils auf eigene Weise zunächst für eine eigenständige, und das heißt zuvörderst von den USA unabhängigere, Sicht auf die zuvor skizzierten Dreiecksbeziehungen plädieren und damit zusammenhängende Aspekte, insbesondere die Rolle der KP Chinas, miteinbeziehen. Hier freut man sich, bereits bekannte Argumente noch einmal griffig und kurz zusammengefasst zu bekommen. Spannend wäre ein tieferer Blick auf die Tatsache gewesen, inwiefern eine erhöhte Unabhängigkeit genau den Bedürfnissen Chinas entspricht. Dies erhoffen wir uns im Folgeband zu diesem unbedingt empfohlenen Bändchen.