„Gewalt und Gedächtnis“, das neue Buch der Historikerin und Judaistin Mirjam Zadoff, ist mehr als nur ein wissenschaftliches Werk über verschiedene Formen der Erinnerung: Anstatt empirische Daten und Modelle vorzulegen, nähert sich Zadoff narrativ einzelnen Diskursen des Erinnerns an Gewalt und an strukturelle Ungleichheiten. Ihre Auseinandersetzung basiert auf einem breiten Verständnis von Kulturen als Texte: Sie bezieht sich auf Musik, Literatur und bildende Kunst, die sie sowohl als Akteurinnen als auch als Produkte von gesellschaftlichen, aktivistischen und politischen Diskussionen liest. In dreizehn Kapiteln thematisiert sie unterschiedliche Episoden des zeitgenössischen Gedächtnisses: Diese umfassen beispielsweise das Gedenken an Opfer des Holocausts in Jerusalem („Memory Kin“), das ambigue Denkmal „dei quattro mori“ von Ferdinando de‘ Medici und vier Sklaven in Livorno mit ihrer sich verändernden Interpretation von der Darstellung von Macht über die Erinnerung an Ausbeutung zur Diskussion über ihre Darstellbarkeit („Leere Sockel“) oder die Erinnerungsnarrative und -ästhetiken an die südkoreanischen „Trostfrauen“ und Zwangsprostituierten der japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg („Kein Trost“).
Anregungen zum Nachdenken
Zadoffs Ziel ist es nicht, historische Ereignisse und die Frage, wie man sich heute an diese erinnert, miteinander zu vergleichen oder sie zu bewerten. Stattdessen regt sie ein Nachdenken an, über Erinnerung als kulturelle Praxis und über die weltweite Omnipräsenz von Gewalt in der Vergangenheit bis in die Gegenwart. In Ihren Erzählungen bezieht sich Zadoff einerseits auf Expert:innen, aber auch auf Dokumentationsmaterial und eigene Erfahrungen sowie Beobachtungen. Besonders interessant ist, wie sich die Autorin Räumen nähert: So behandelt jedes Kapitel nicht nur einen unterschiedlichen Erinnerungsdiskurs, sondern ist auch geografisch in unterschiedlichen Ländern angesiedelt. Dabei bezieht sich Zadoff sowohl auf die Geschichte als auch auf lokale kulturelle Besonderheiten. Das spiegelt die Diversität von Zadoffs Arbeit wider, die unterschiedliche globale Perspektiven in den Vordergrund rückt und vorherrschende Machtstrukturen hinterfragt. Gleichzeitig ist der Ausgangspunkt ihrer Erzählungen nicht nur der geografische Raum, sondern auch ein konkreter Ort der Erinnerung. Diese umfassen Museen, Archive oder Denkmäler im öffentlichen Raum. Durch diese räumliche Rückkoppelung gelingt Zadoff einerseits die Betonung der regionalen Besonderheiten im Erinnerungsdiskurs und andererseits öffnet sich die Frage nach Institutionalisierung bzw. Demokratisierung von historischen Erzählungen und ihrer zeitgenössischen Interpretation – eine Herausforderung, mit der aktuell viele Museen konfrontiert sind.
Zadoffs Buch bietet interessante Einblicke in die internationale Erinnerungslandschaft und regt zum Nachdenken an, welche Geschichten erzählt werden, wenn man sich erinnert. Nicht zuletzt aufgrund seiner narrativen Sprache könnte man das Buch auch als Erzählsammlung sehen, das dem Genre der Reiseliteratur zuzuordnen ist. Das Changieren zwischen Reportage und Essay auf der einen Seite und genauer kulturwissenschaftlicher Analyse auf der anderen Seite trägt zur Qualität des Werkes bei, das ich nur weiterempfehlen kann!