Slavoj Žižek will in seinem neuen Buch Grundfragen klären, wie wir über Wahrheit reden und nach ihr suchen sollten. Er schreibt, dass unser Wissen über die Realität nie vollständig sein werde, weil die Realität es selbst nicht sei. Wichtige Lektionen dazu zieht er aus seinem Verständnis der Sexualität.
Žižek macht es den Leserinnen und Lesern seiner Interviews in Tageszeitungen leicht – für die Lektüre seiner Bücher gilt das eher nicht. So auch diesmal: Sex und das verfehlte Absolute ist ein anspruchsvoller philosophischer Text, mit dem Žižek versucht, das ontologische Grundgerüst seiner gesamten bisherigen Arbeit darzustellen, und somit zu erläutern, was er über die Grundstruktur des Seienden weiß. Seine Interviews aus Anlass der Publikation des Buches behandeln hingegen gut lesbar, wie er Sexualität in Zeiten des Coronavirus sieht.
Worin besteht die Wirklichkeit?
Hier geht es um sein Buch. Žižek beobachtet, dass es eine neue Bewegung in der Philosophie gibt, die (wieder) eine eindeutige Auffassung darüber erlangen will, worin die Wirklichkeit besteht. Das sei eine nachvollziehbare Reaktion auf Jahrzehnte, in denen die Dekonstruktion scheinbarer Gewissheiten das vorrangige Anliegen der Philosophie war. Aber es geht Žižek darum, diese neue „ontologische Versuchung“ zurückzuweisen. Eine eindeutige Auffassung der Wirklichkeit kann es nicht geben, da diese selbst nicht eindeutig sei. Die Wirklichkeit sei, so Žižek, selbst „durchkreuzt“. (S. 18)
Das könne man auch sehen: Denn es gebe eine irreduzible parallaktische Lücke zwischen der Vorstellung von der Realität als Seinsganzes und der Vorstellung von dem transzendentalen, unseren Zugang zur Realität immer schon vermittelnden Horizont. Praktischer formuliert: „Wenn die ‚objektive‘ Realität in gewissem Sinne alles umfasst, ‚was es gibt‘- den Kosmos -, wie müsste sie dann strukturiert sein, damit die Subjektivität in ihr und aus ihr heraus entstehen konnte?“ (S. 32f.) Wie konnte aus einem Ganzen, Totalen, unsere Subjektivität „ausbrechen“? Auch: Alles was wir über das Ganze sagen, wie wir es konstituieren, ist subjektiv bedingt.
In der Lücke passieren verrückte Dinge
Žižek ist fasziniert von dieser Spannung. Für ihn fehlt etwas zwischen diesen beiden Ebenen. Er spricht von einer Lücke. Seine Hypothese ist, dass in dieser Lücke verrückte Dinge passieren. (S. 33) Das wiederkehrende Bild für diesen Ort ist das Möbiusband. Das ist eine Schleife, die man erhält, wenn man einen Papierstreifen zu einem Ring zusammenklebt, das Ende einer Seite davor aber um 180 Grad wendet. So ergibt sich eine Fläche, die kein innen und außen, kein oben und unten kennt. Die Fläche ist nicht orientierbar. Was wir oben und unten, innen und außen nennen, wird zu unserer Wahl. „Das Möbiusband spiegelt den kontinuierlichen Übergang eines Begriffs in sein Gegenteil wider (Sein geht in Nichtsein über, Quantität schlägt in Qualität um usw.).“ (S. 18) Dieser Raum ist gekennzeichnet durch eine selbstbezügliche Kreisbewegung des Zurückfallens auf sich selbst. (S. 10)
In diesem Raum zwischen Subjektivität und dem Absoluten, in dem es zu auf sich zurückfallende Bewegungen kommt, finden wir auch die Sexualität. Žižek meint, dass die Sexualität unser privilegierter Kontakt zum Absoluten sei. Sex bilde die erste und grundlegendste Erfahrung eines im eigentlichen Sinne meta-physischen Erlebens. „Sexuelle Leidenschaft unterbricht den Fluss des täglichen Lebens: Eine andere Dimension dringt in unseren Alltag ein und sorgt dafür, dass wir unsere üblichen Interessen und Verpflichtungen vernachlässigen.“ (S. 140f.) Sex sei zwar die elementare Bedingung und wesentliche Substanz unseres Daseins, sie werde aber durch vielschichtige Zivilisationsrituale kultiviert, und schließlich wird im Sex mit dem „natürlichen Leben“ gebrochen. Wird ein Begehren erfüllt, hört es auf zu sein. Schließlich benötigt es ein Fehlen, auf das es sich bezieht. „Aufgrund dieser immanenten Spannung ist der sexuelle Genuss nicht nur letztlich zum Scheitern verurteilt, sondern er ist in gewisser Weise der Genuss des Scheiterns selbst, des wiederholten Scheiterns, der Wiederholung des Scheiterns. (…) Das erhabene sexuelle Ding (…) ist nicht auf direktem Weg erreichbar; es lässt sich nur als fehlender Kristallisationspunkt der wiederholten Versuche, es sich anzueignen, umschreiben.“ (S. 141)
Die Sexualität als entscheidende Stelle
„Nicht die Arbeit oder die Sprache, sondern die Sexualität markiert die Stelle, an der wir Menschen mit der Natur brechen; sie bildet den Raum, in dem wir uns der ontologischen Unvollständigkeit stellen und uns dabei in der sich endlos selbst reproduzierenden Schleife verfangen, in der das Begehren sich nicht auf sein Ziel, sondern auf die Wiederherstellung seines Mangels richtet.“ (S. 83)
Diese „reproduzierende Schleife“ in der Sexualität ist durch das Problem gekennzeichnet, dass Sexualität nicht ein Bedürfnis „erledigt“, sondern das wiederholte Erleben einfordert. „Was den Menschen letztlich vom Tier unterscheidet, ist nicht irgendein positives Merkmal (Sprache, Herstellung von Werkzeugen, reflexives Denken oder dergleichen), sondern das Erscheinen eines neuen Punkts der Unmöglichkeit, den Freud und Lacan als das Ding bezeichnen, des unmöglich-realen letzten Bezugspunkts des Begehrens.“ (S. 84)
Žižek will aber noch mehr aussagen. Nämlich, dass wir diese Lücke zwischen den realen und den transzendentalen Dimensionen nicht als unser Defizit sehen sollen. Es sei keineswegs so, dass wir leider nicht der Lage seien, diese Lücke durch Erkenntnis zu füllen. Diese Lücke sei Teil der Realität selbst. Die komplette Wahrheit sei vielmehr, dass diese selbst nicht komplett ist. „In ihrer grundlegendsten Form ist die Realität nicht das, was ist, sondern das, was zu sein verfehlt, was es ist, dessen Faktizität einer Unmöglichkeit durchkreuzt wird. Die Dinge ‚werden, was sie sind‘, weil sie nicht unmittelbar sein können, was sie sind.“ (S. 45) Dies ist dann auch die Quelle der Bewegung in der Welt, die der Dialektiker Žižek sucht.