Byung-Chul Han

Vita contemplativa

Ausgabe: 2023 | 4
Vita contemplativa

Die Dialektik von „Nichtstun“ und „nichts tun“ hat uns schon im Zusammenhang mit dem gleichnamigen Buch von Jenny Odell beschäftigt. Darin geht es um ein Nichtstun im Sinne eines Tuns, das sich der Vorherrschaft von Produktion und Effizienz entzieht. Es gebe eine Art von Nichts, vermutet Odell, die notwendig ist, um letztendlich etwas zu tun. „Nichtstun“, respektive „nichts tun“ – zwischen den beiden Schreibweisen changiert das Buch ja – ist für Odell ein Ausweg aus der Aufmerksamkeitsökonomie, die zunehmend unsere Sinne absorbiert. Folglich ein Schritt hin zu einer anderen Wahrnehmung. Ein zweifellos inspirierender Gedanke, vage blieb in dem Essay freilich eine nähere Bestimmung dieses Nichtstuns als besondere Form des Handelns durch Nichthandeln.

Der Philosoph Byung-Chul Han nähert sich diesem Thema nun grundlegend, mit den Mitteln der Philosophie. „Vita contemplativa”, das liest sich nicht nur so, sondern ist ganz offensichtlich ein Gegenentwurf zu „Vita activa”, Hannah Arendts viel zitiertem und bewundertem Philosophieentwurf, der den handelnden Menschen in den Mittelpunkt rückt – und damit perfekt in die aktivitätsversessene heutige Zeit passt: Vita activa, ist das nicht schon auf alltagssprachlicher Ebene eine Metapher für das aktivitätserfüllte, moderne Leben? Das aktive Leben ist das Leitbild unserer Zeit. Es gilt aktiv zu sein, präsent zu sein, überall ist Handeln angesagt, und vielerorts scheint es dringlicher denn je.

Handeln und Nichthandeln, Tätigkeit und Untätigkeit, Aktivsein und Kontemplation, das ist das Spannungsfeld, das Byung-Chul Han eröffnet. Er rückt nun die Folgen der Verabsolutierung des Handelns in den Blickpunkt: die „katastrophalen Folgen des menschlichen Hineinhandelns in die Natur“ (S. 41) ebenso wie die Absorbierung der menschlichen Existenz durch den Zwang zu Tätigkeit, Produktion und Leistung: „Da wir das Leben nur noch auf Arbeit und Leistung hin wahrnehmen, begreifen wir die Untätigkeit als Defizit, das es schnellstmöglich zu beheben gilt“ (S. 9). Die menschliche Existenz werde von Tätigkeit restlos absorbiert und dadurch ausbeutbar. „Wir verlieren den Sinn für die Untätigkeit, die kein Unvermögen, keine Verweigerung, keine bloße Abwesenheit von Tätigkeit, sondern ein eigenständiges Vermögen darstellt“ (ebd.).

Den kontemplativen Anteil am Handeln erhöhen

Byung-Chul Hans Buch verbindet eine Zeitdiagnose mit einer philosophischen Reflexion über Handeln und Nichthandeln und schlägt einen Bogen zur praktischen Philosophie einer guten Lebensführung, ohne dabei in überkommene Schwarz-Weiß-Muster zu verfallen. Ja, Vita contemplativa ist ein Gegenentwurf zu Vita activa, aber nicht im ausschließenden Sinne eines Entweder-oder. Han geht es um eine Synthese, eine notwendige Ergänzung. In einer intensiven und eingehenden Auseinandersetzung mit der Philosophie Hannah Arendts sucht er nach dem Zusammenhang von Handeln und Kontemplation, von Aktivität und Besinnung. Er wägt Argumente ab, rekonstruiert Argumentationslinien, arbeitet mit Quellen und Interpretationen.

Sein Argument in Kürze: Hannah Arendt hat nur die eine Seite, das aktive Handeln, den Zielpunkt ihrer Philosophie also, in den Blick genommen, dabei aber – bedingt durch eine Fehlinterpretation (von Platons Höhlengleichnis) – die andere Seite ausgeblendet: die Kontemplation, das Nachdenken, ohne gleich ins Handeln zu kommen. Han hält dem entgegen, was Platon

gemeint habe: „Dem Handeln geht die Kontemplation als Weg zur Erkenntnis, zur Wahrheit voraus.“ Das heißt: „Vita activa ohne Vita contemplativa ist blind“ (S. 101). Entscheidend sei, dass die Vita activa die Vita contemplativa „in sich aufnimmt“ (S. 103). Hans zentrales Argument ausführlich zitiert: „Zweifellos ist ein entschlossenes Handeln notwendig, um die katastrophalen Folgen des menschlichen Eingriffs in die Natur zu beheben. Aber wenn die Ursache des drohenden

Unheils das absolut gesetzte menschliche Handeln gewesen ist, das sich rücksichtslos der Natur bemächtigt und sie ausbeutet, so muss eine Korrektur am menschlichen Handeln selbst vorgenommen werden. Es ist daher notwendig, den kontemplativen Anteil am Handeln zu erhöhen, das heißt dafür zu sorgen, das Handeln um die Besinnung zu erweitern“ (S. 51f.).

Untätigkeit als Vermögen, das nicht handelt

Die Verabsolutierung des aktiven Lebens ist indes nur Ausdruck eines sehr grundlegenden, in der westlichen Philosophie und Denkweise wurzelnden Missverständnisses: der Annahme, dass zielgerichtetes, zweckorientiertes Handeln generell der beste Weg zur Lösung einer Aufgabe oder eines Problems sei – eine funktionalistische Denkweise also, die instrumentelles Handeln über alles stellt: zielgerichtetes Handeln ohne tiefgreifendes Nachdenken, geradlinig ohne Umwege, Irrwege, Fehler, ohne Lernen also, und ohne Zeit für Zufälle und Unerwartetes am Wegesrand. Also ein Denken, das stets nur die kürzeste Verbindung zwischen zwei Gedankenpunkten sucht.

Han spürt dem Wesen der Untätigkeit nach und wird fündig bei Denkern und Schriftstellern wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Roland Barthes, Giorgio Agamben, Marcel Proust, Heinrich von Kleist. Zhuangzi und Martin Heidegger vor allem. Dessen Begriff der Besinnung und die Verankerung der Philosophie im Sein des Menschen bilden den Schlüssel zu einem Verständnis der Untätigkeit nicht als Faulheit, sondern als Quelle der Inspiration. „Die Besinnung ist ein Vermögen, das nicht handelt“, interpretiert Han das Denken Heideggers. „Sie impliziert das Innehalten als Unterbrechung, als Untätigkeit“ (S. 45). Untätigkeit ist dabei verstanden als ein eigenständiges Vermögen, als „der letzte Zweck menschlicher Anstrengungen“, ja „Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung“ (S. 11, 20).

Die Erfahrung aber erodiert in unserer aktivitätsversessenen Zeit und speziell unter dem Always-on-Druck der sozialen Medien immer mehr. Glasklar und präzise legt Han die Logik des rastlosen Tuns und seiner Folgen bloß: „Was zählt, ist allein die kurzfristige Wirkung, der schnelle Erfolg. Handlungen verkürzen sich zu Reaktionen. Erfahrungen verdünnen sich zu Erlebnissen. Gefühle verarmen zu Emotionen oder Affekten. Wir haben keinen Zugang zur Wirklichkeit, die sich allein einer kontemplativen Aufmerksamkeit erschließt“ (S. 20). Deren Voraussetzung aber ist die zweckfreie Untätigkeit. In seinem Buch entwickelt Han ein tiefer gehendes Verständnis zweckfreier Untätigkeit, nicht als Faulheit, sondern als die Voraussetzung kontemplativer Aufmerksamkeit. Untätigkeit bedeutet: „Wir tun zwar, aber zu nichts. Dieses Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen ist der Wesenskern der Untätigkeit“, und zugleich Grundlage der Wahrnehmung und „Grundformel des Glücks“ (S. 13).

Unser instrumentales Verhältnis zur Natur revidieren

Das Buch endet aber nicht mit dem individuellen Glück, sondern mit Gedanken zur Natur. In einer Situation, in der rücksichtslose Ausbeutung nun auf den Menschen und den Planeten selbst zurückschlägt, sucht Han nach einem neuen Naturverständnis. Einem Naturverständnis, das nicht länger auf einer Zweckbeziehung beruht. Er findet es bei den Frühromantikern, die der Ansicht waren, dass die Natur fühlt, denkt und spricht. Die romantische Naturauffassung, die selbst unbelebte Dinge als beseelt wahrnimmt (was nebenbei bemerkt auch der Denkweise der indigenen Ureinwohner:innen unterworfener Kontinente entspricht), liefere ein wirksames Korrektiv für unser instrumentales Naturverständnis, schreibt Han. „Das Naturverständnis der Romantik hat das Potenzial, unser instrumentales Verhältnis zur Natur, das unvermeidlich zu Katastrophen führt, zu revidieren“ (S. 108).