Richard Rorty

Pragmatismus als Antiautoritarismus

Ausgabe: 2023 | 4
Pragmatismus als Antiautoritarismus

Richard Rorty war einer der einflussreichsten amerikanischen Philosophen, er verstarb 2007. Bei Suhrkamp werden jetzt Vorlesungen von ihm aus dem Jahr 1996 vorgelegt. Rorty war ein führender Vertreter des amerikanischen Pragmatismus. Kern des Denkens dieser Schule ist der Verzicht darauf, eigene Ideen auf eine objektive Wahrheit stützen zu wollen. Wenn aber die Ideen der Demokrat:innen nicht wahrer sind als beispielsweise die der Rassist:innen – besteht dann nicht die Gefahr, dass unsere Zivilisation aufgrund dieses Relativierens in eine zivilisatorische Krise stürzt?

Keine festen Grundlagen

„Ich werde versuchen, ein Bild des Resultats zu zeichnen, das sich ergibt, wenn man die kosmologischen, erkenntnistheoretischen und moralischen Formen des Erhabenen beiseitelässt, also: Gott als immaterielle erste Ursache, die Realität als etwas unserer epistemischen Subjektivität völlig Fremdes und moralische Reinheit als etwas, was unserem von Haus aus sündigen, empirischen Ich unerreichbar bleibt.“ (S. 46)

Rorty ist Freund demokratischer Regierungsformen und der Organisation des sozialen Ausgleichs, er bezeichnet sie als „öffentliche Institutionen“. Diese sollten wir „als Versuche auffassen, Gerechtigkeit und Glück durch alle möglichen Notbehelfe zu maximieren, die diese Aufgabe zu erfüllen versprechen […]. Wir sollten weder erwarten noch wünschen, dass unseren öffentlichen Institutionen eine feste philosophische Grundlage – eine Verbindung mit dem Wesen der Realität oder Wahrheit – zukommt“ (S. 52).

Inklusion und Exklusion

Demokratie und sozialer Ausgleich sind also nicht das Ergebnis der Einsicht in das Wesen von etwas Großem. Sondern? Rorty versucht es unter Bezug auf andere Denker so zu formulieren: Man sollte „unsere moralische Aufgabe im Sinne der Erweiterung unserer sittlichen Gemeinschaft auffassen und durch Inklusion dafür sorgen, dass immer mehr verschiedenartige Menschen unter unseren Gebrauch des Wortes ‚wir‘ fallen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist der moralische Fortschritt keine Sache des größeren Gehorsams gegenüber dem Gesetz, sondern eine Sache des immer umfassender zum Tragen kommenden Mitgefühls. Es geht nicht so sehr um Vernunft, sondern eher um Gefühl – nicht so sehr ums Prinzip, sondern eher um Vertrauen“ (S. 55).

Die meisten menschlichen Gemeinschaften seien ausschließend. Ihr Identitätsgefühl und das Selbstbild ihrer Angehörigen beruhten auf ihrem Stolz darauf, bestimmten Arten von Menschen nicht anzugehören: „denen, die den falschen Gott verehren, die falschen Nahrungsmittel essen oder irgendwelche anderen abwegigen, abstoßenden Überzeugungen und Wünsche haben“ (S. 139). Viele Philosoph:innen bemühten sich, das zu überwinden, indem sie nachzuweisen versuchten, dass bestimmte Überzeugungen und Wünsche in jeder Gesellschaft zu finden seien. Eine Idee war, dass das Streben nach Wahrheit allen Menschen gemeinsam sei. Das wäre schon mal ein Argument, alle Menschen zu vereinen, anstatt sie gegeneinander zu stellen. Jürgen Habermas versucht dies im kommunikativen Handeln zu finden; eine Vernunft, die allgemein gültig ist und die implizit der Gemeinschaft der Sprachnutzer die Organisationsform der Demokratie nahelegt.

Doch davon will der Pragmatiker Rorty nichts wissen. Es könne bei dieser Argumentation „zu Recht der Vorwurf gemacht werden, wir versuchten unsere eigenen sozialen Praktiken in die Definition von etwas hineinzuschmuggeln, was universell und unvermeidlich ist, da es von  den Praktiken aller Sprachnutzer vorausgesetzt wird. Es wäre aufrichtiger und deshalb besser zu sagen, dass sich die demokratische Politik genauso wenig auf solche Voraussetzungen berufen kann wie die antidemokratische Politik, ohne deshalb jedoch schlechter dazustehen“ (S. 144).

Mit Erzählungen überzeugen

Rorty meint weiter, dass man als Demokrat:in wahrscheinlich in Debatten eher Erfolg haben werde, wenn man über gemeinsame Selbsterschaffung, die Verwirklichung eines Traums spricht und nicht über die Umsetzung von etwas Wahren oder Notwendigen. Man könne beginnen, Erkenntnis durch Hoffnung zu ersetzen. „Nicht die Fähigkeit, die Wahrheit zu erfassen, ist das Wichtige am Menschsein, sondern die stattdessen gehegte Vorstellung, Bürgerinnen und Bürger der zukünftigen, vollendeten Demokratie sein zu können“ (S. 146f.).

Rorty argumentiert, dass es für die Begründung von Institutionen des guten Zusammenlebens besser sei, auf eine „Wahrheit“ oder „objektive Notwendigkeit“ zu verzichten, dass der Verzicht darauf, eine Wahrheit zu repräsentieren, sogar besser für die Demokratie sei. „Sofern es eine Folgerungsbeziehung zwischen Demokratie-Hingabe und einer antirepräsentationalistischen Auffassung von Wahrheit und Erkenntnis gibt, ist es die Letztere, die für die Zwecke jener Ersteren besser geeignet ist als repräsentationalistische Theorien“ (S. 113). Wer neigt eher dazu, anderen Meinungen Gehör zu geben: Jene Person, die meint, sich mit ihrem Argument auf die Wahrheit zu beziehen, oder jene, die ihr Argument nur als Vorschlag für eine Verbesserung der Welt sehen kann? Mit seinem wichtigen Ideengeber John Dewey führt Rorty weiter aus, dass der Wunsch nach Universalität, Unbedingtheit und Notwendigkeit uns von den praktischen Problemen der demokratischen Politik weg – und in ein Wolkenkuckucksheim der Theorie hinführe (vgl. S. 305).

Was jetzt aber tun, wenn man mit Anti-Demokrat:innen diskutiert und man die Wahrheit nicht auf seiner Seite hat oder haben kann? Erstens bringe die Wahrheit in den Debatten nicht viel: Sei es schon einmal gelungen, jemanden durch den Vorwurf des performativen Selbstwiderspruchs zu überzeugen? Erfolgversprechender könnte sein, bessere Bilder zu zeichnen, bessere Erzählungen einer wünschenswerten Zukunft zu haben. „Genauer gesagt, können wir sowohl den geistigen als auch den moralischen Fortschritt als etwas nicht von der Annäherung an das Wahre, Gute und Richtige Abhängiges sehen, sondern als Zunahme der Vorstellungskraft. Sie, die Fantasie, bringt die kulturelle Evolution voran. Sie ist die Kraft, die unter Voraussetzung von Frieden und Wohlstand ständig dahingehend wirkt, dass sich die Zukunft des Menschen reichhaltiger gestaltet als seine Vergangenheit“ (S. 309).