Schule 2020 aus Expertensicht

Ausgabe: 2009 | 4

Nicht weniger als 58 Beiträge umfasst dieser ambitionierte Band, zu dem Kollegen, Weggefährten und Freunde des seit mehr als 40 Jahren vor allem an der Universität Kassel wirkenden Pädagogen Rudolf Messner aus unterschiedlicher Perspektive Überlegungen zur Schule der näheren Zukunft beigesteuert haben. Nicht utopische Entwürfe, sondern „wünschenswerte und realisierbare Visionen für die unmittelbare Zukunft“ hatte sich das Herausgeberduo, Doris Bosse (Kassel) und Peter Posch (Klagenfurt), gewünscht und die von KollegInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingelangten Ausführungen zu einem in fünf Kapitel gegliederten, vielfältigen Kompendium zusammengefasst. Exemplarisch seien hier einige der diskutierten Beiträge vorgestellt.

 

„Gesellschaftliche Perspektiven der Schulentwicklung“ diskutieren acht Beiträge des ersten Abschnitts. Helmut Fend etwa benennt vier Leitideen von Bildung – 1.) die „Gleichwertigkeit aller Menschen“, 2.) die Freiheit der „Gestaltungsmöglichkeit der eigenen Lebensgeschichte“, 3.) die „Solidarität von Gemeinschaften und Gesellschaften“ sowie 4.) die „kulturelle Gestaltung des Zusammenlebens“ – und plädiert mit Nachdruck dafür, diese Prinzipien durch eine „Qualitätssicherung des Bildungswesens auf allen Ebenen“ und die „Rekontextualisierung des schulischen Angebots“ zu stärken. Vier Trends würden die Schule in den nächsten Jahren prägen, meinen Herausgeber Peter Posch und Herbert Altrichter: Veränderungen der Arbeitswelt machten es notwendig, SchülerInnen verstärkt die Sinnhaftigkeit von Wissen und Kompetenzen zu vermitteln; neue Formen der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen würden Schule zunehmend zu einem „Lebensraum“ im Sinne eines kulturellen und sozialen Zentrums werden lassen; zunehmende Deregulierung/Dezentralisierung eröffneten für Schulen erhebliche Entscheidungsspielräume, erforderten verstärkte Investitionen in die Ausbildung und Arbeitsbedingungen von LehrerInnen und würden dazu beitragen, dass Jungendlichen nicht nur „Wissen und Kompetenz auf Vorrat“(S.35), sondern auch gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten (wie etwa Partizipation) vermittelt würden; die wachsende Heterogenität der Schülerschaft schließlich habe die „Pflege interkultureller Kommunikation“, die Erhöhung „diagnostischer Kompetenz“ und zunehmend auch die Umsetzung einer gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen zur Folge. Im letzten Beitrag dieses Abschnitts entwirft Klaus-Jürgen Tillmann eine düstere Vision der öffentlichen Pflichtschule: nicht auszuschließen, so seine These, dass in ihr nur noch die Qualifizierungsfunktionen (Lesen, Schreiben und Rechnen) vermittelt und die Versorgung/Aufbewahrung von Kindern berufstätiger Eltern angeboten würden, während privatwirtschaftlich geführte Firmen von der pädagogischen Frühversorgung (Vorschule) bis zum Abitur die Karriere jener vorbereiten, die es sich leisten können.

 

 

 

Echte Gesamtschule

 

Die „gemeinsame Schule und der Umgang mit Vielfalt“ ist Thema des zweiten Abschnitts. Aus Sicht der Praktikerin wendet sich Ingrid Ahlring gegen die „fatale Zweigliedrigkeit“ von „Real- und Hauptschule“ ebenso wie gegen deren „Zwangsvereinigung“; vielmehr plädiert die Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden für „innerschulische Beruhigung“ und für einen Diskurs „jenseits des tabuisierten Schulreformdebakels“ mit dem Ziel der Umsetzung einer „Vision der Eingliedrigkeit“, die eine „blühende Unterrichtskultur“ durch „vertikale Vielfalt“ ermöglicht (S. 80). Der „Ganztagsschule als kinder- und jugendgerechtem Lern- und Lebensort“, dem Schweizer Modell der Eingangsstufe für alle 4- bis 8-Jährigen, Erfahrungen mit der Altersmischung von Schulklassen (Glocksee) oder dem Modell der „Offenen Schule“ (Kassel-Waldau) sowie Überlegungen zu einer „integrationsfähigen Schule für alle“ oder der „echten Gesamtschule“ – „Eine einheitliche Schule hat für alle Beteiligten Geschenke im Talon“ (R. Vierlinger, S. 130) – lässt anklingen, wie vielfältig die Vorschläge zur Weiterentwicklung der Schule sind.

 

Überlegungen zum „Unterricht 20 Jahre nach der ersten PISA-Studie“ versammelt Kapitel drei: Wo Schule sich nicht (mehr) als Ort der „Belehrung von Objekten“, sondern als Förderung von „lernenden Subjekten“ begreift, würden sich Beziehungen, Lerninhalte, Lehrmethoden und nicht zuletzt die Bewertung von Leistung verändern, meint einleitend F. Bohnsack. Und in eben diese Richtung zielt D. Bosse, die sich der zunehmenden Bedeutung der Vermittlung von Medienkompetenz widmet. Mit fortschreitender Individualisierung würden Lehrende und Schulen „durchgehend Verantwortung für die ihnen anvertrauten Jugendlichen“ übernehmen, Angebote in unterrichtsfreien Zeiten sowie „vor-“ und „nachgehende Betreuung“ von Schülern und Eltern anbieten, ist P. Fauser überzeugt. In einem weiteren Beitrag wird die „Schule als Lebenswerkstatt“ vorgestellt, thematisiert wird aber auch die Rolle historisch-politischer Bildung, der Vermittlung von Kulturtechniken (O. Negt) oder die zukünftige Rolle des Schulbuchs.

 

Mit Perspektiven der Lehrerbildung (Kapitel 4) – erörtert wird etwa die gleichwertige universitäre Ausbildung für den Elementar-, Primar- und Sekundarbereich (F. Heinzel, S. 265ff.), die Bedeutung von „Beziehungskompetenz als professionelle Herausforderung“ – sowie der Schulentwicklung (Kapitel 5) – hier geht es u. a. um „Lernberatung für ‚lernende Schulen’“, prozess- orientierte Zukunftsmoderation“ – (O.-A. Burow berichtet über seine langjährigen Erfahrungen im Einsatz von Zukunftswerkstätten in der pädagogischen Praxis) – oder „Geschlechterdemokratie als Perspektive der Schulentwicklung“ schließt dieser Band. Er bietet einen facettenreichen Einblick in aktuelle Herausforderungen und Entwicklungspotenziale der Institution Schule. Vor allem an Universitäten und Hochschulen tätige PädagogInnen sowie an der Entwicklung der Unterrichtspraxis Interessierte LehrerInnen werden ihn mit Gewinn zur Hand nehmen. W. Sp.

 

Schule 2020 aus Expertensicht. Zur Zukunft von Schule, Unterricht und Lehrerausbildung. Hrsg. v. Dorit Bosse … Wiesbaden: VS Verl. f. Sozialwissenschaften, 2009. 393 S., € [D], [A], sFr

 

ISBN 978-3- 531-16678-0