Fit und fertig

Ausgabe: 2009 | 4

Jürg Jegge gehört wie Hans A. Pestalozzi oder Adolf Muschg zu jenen analytisch präzisen und kritischen Schweizer Intellektuellen, die die scheinbar so wohl geformte Ordnung in ihrem Land kritisch hinterfragen und auf Änderungen drängen. 1943 in Zürich geboren, hat Jegge eine Karriere als Lehrer, Liedermacher und Fernsehmoderator hinter sich. Ende der 70er-Jahre mit dem Bestseller „Dummheit ist lernbar“ bekannt geworden, bleibt Jegge mit der hier vorgelegten Kritik des „Systems Schule“ seinem Thema treu, weitet es aber zu einer Abrechnung mit dem „neoliberalen Fitnessprogramm“ (NLFP) aus, um, daran anschließend, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine alternative gesellschaftliche Entwicklung auszuloten. Doch der Reihe nach.

 

Als „Fitnesscenter für die Arbeitsesel des Neoliberalismus“, so Jegge, sei es der Schule darum zu tun, „unternehmerische Selbste“ zu formen, „die ihre Humanressource fast uneingeschränkt zur Verfügung stellen“. Vier Gründe – die Hoffnung auf die Sicherung des Lebensunterhalts, das Streben nach dem großen Geld, die Angst vor dem Verlust der Arbeit und schließlich die Verinnerlichung des Systems, „das den Menschen in Fleisch und Blut, und, schlimmer noch, in Hirn und Seele eingedrungen“ ist (S. 19) – würden die institutionelle und individuelle Deformation befördern. Flankiert vom „Propagandaapparat verschiedener Parteien und wirtschaftlichen Gruppierungen“ sei die Schule zu einer permanenten Baustelle im Sinne des NLFP geworden, kritisiert der Autor. Der Umbau zu teilautonomen Unternehmen, permanenter Leistungsvergleich und Qualifizierungsnachweise verwiesen allesamt auf das „5-Punkte-Programm des NLFP“: das Diktat von Ökonomie, Effizienz, Konkurrenz, Konformität und Professionalismus. Faktenreich, pointiert und im besten Sinne leidenschaftlich analysiert Jegge dieses „Bildungskonzept“ und erhebt dagegen, wie renommierte Bildungswissenschaftler und gegenwärtig vor allem Betroffene an Schulen und Universitäten - vehement Einspruch! Ernüchternd fällt auch die Evaluation des Systems Schule aus. Dazu zwei Zahlen: Bei 57% aller Drittklässler im Kanton Zürich“, so nur ein Befund aus dem Jahr 2003, war im Verlauf ihrer noch kurzen „Schulkarriere“ bereits eines sonderpädagogische Maßnahme notwendig; 63% aller Schweizer Kinder erhalten privat Nachhilfestunden (vgl. S. 54ff.).

 

 

 

Neoliberales Fitnessprogramm

 

Doch nicht allein an der Schule übt Jegge Kritik. Im zweiten Kapitel weitet er seine Kritik zu einem „(unvollständigen) Sündenregister des Neoliberalismus“ aus und beschreibt dabei – immer auf die spezifischen, aber übertragbaren Entwicklungen in seinem Land Bezug nehmend – unter anderem die Erosion von Pressevielfalt, Sozialstaat und Gesundheitswesen. Jegge ortet den „Abbau allerorten“, wobei seine Diagnose an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „Das NLFP scheint eine bereichsübergreifende Veranstaltung zu sein. Und alle leiden darunter, die Lehrerin, die Sozialarbeiterin, die Ärztin, der Fotohändler, der Landwirt und der Beizenwirt.“ (S. 151) Wo Menschen, der Logik des Marktes unterworfen, sich nur noch in „Reiche, Anleger, Verbraucher sowie ErfüllerInnen“ gliedern, der nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ entfesselte Kapitalismus also ganze Arbeit leistet, hält der Autor nach „Brachen eines anderen, solidarischen gesellschaftlichen Miteinanders“ Ausschau. Als eine solche beschreibt er den von ihm seit 1985 geleiteten „Märtplatz“, eine „berufliche Eingliederungsstätte für junge Menschen mit Startschwierigkeiten“. Oberstes Ziel sei es dort, junge Menschen respektvoll zu behandeln, sie zu fördern, aber auch zu fordern und ihnen klar zu machen, dass sie ihre jeweils spezifischen Fähigkeiten kennen lernen und nützen sollen. „Letztlich geht es um drei Dinge: darum, dass jeder Mensch seinen individuellen Fähigkeiten und Interessen gemäß gebildet wird, dass er also im weitesten Sinne mit sich selber umgehen kann, darum, dass er andere Menschen wahrzunehmen lernt, und, darum, dass er die Welt einigermaßen verstehen und sich in ihr orientieren kann.“ (S. 176)

 

Um hierfür möglichst gute Voraussetzungen zu schaffen, wirbt der Autor für ein aus „Lernräumen“ modulartig konzipiertes Bildungssystem, das Kindergarten und Volksschule zusammenfasst und gleitende Übergänge zu Mittelschule, Hochschule oder Beruf vorsieht. Grundformen allen Lernens sollten Spiel, Muße, Feste und selbstverständlich Gruppen- wie Einzelarbeit als Basis, oberstes Prinzip die Pflege von Vielfalt sein. Es folgen Empfehlungen für schulgeplagte Eltern („Nehmen Sie die Schule nicht so wichtig“ S. 185) sowie zur Wahl eines Berufs, „der Freude macht“ – Jegge plädiert u. a. für eine professionelle Berufsberatung, die „Lehre auf Probe“ und die Wahl seltener Berufe, „die nicht das große Einkommen versprechen“ (S. 190). Um die für eine umfassende Bildungsreform erforderlichen Mittel aufzubringen, plädiert Jegge für eine „griffige Erbschaftssteuer“ in der Größenordnung von 50% („Wer erbt, hat ja noch nichts zu seinem Reichtum beigetragen – sieht man von der Leistung ab, in die richtige Familie hineingeboren worden zu sein“, S. 201) und greift darüber hinaus Vorschläge des Wiener Ökonomen Heinrich Wohlmeyer auf, der durch eine konsequent ökologisch und Kapital-orientierte Neuordnung des Steuersystems für Österreich Mehreinnahmen von 40 Milliarden Euro pro Jahr für machbar hält (vgl. S. 201ff.).

 

 

 

Positive Kraft der Negation

 

Die vielleicht wichtigste Empfehlung, wie dem Diktat des NLFP zu begegnen wäre, gibt der Autor am Ende seiner Ausführungen mit der „Anstiftung zum Störrischsein“. Um dem Diktat des Neoliberalismus entgegenzuwirken, sollten wir uns an der „Würde des Esels“ ein Beispiel nehmen und uns der „positiven Kraft der Negation“ besinnen, wobei Jegge freilich keine Patentrezepte zum Besten gibt. „Es ist eine ganz persönliche Sache, wie weit ein Mensch mit seiner Verweigerung zu gehen bereit ist und auch gehen kann. Aber wo sie gelingt, ist wieder ein Schritt in Richtung auf eine lebenswertere Welt getan.“ (S. 209) Dieses Buch macht Mut, die Verweigerung zu proben und zugleich neue Perspektiven für Schule und Gesellschaft auszuloten. W. Sp.

 

Jegge, Jürg: Fit und fertig. Gegen das Kaputtsparen und für eine offene Zukunft. Zürich: Limmat-Verl., 2009. 223 S., € 22,80 [D], 23,50 [A], sFr 39,90

 

ISBN 978-3-85791-589-5