Jean-Philippe Kindler

Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf

Ausgabe: 2025 | 2
Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf

Ob Wohlbefinden, Klimakrise oder Armut – für viele Lebensbereiche wird die Verantwortung primär bei Individuen gesehen. Anstatt nach strukturellen Gründen und Lösungen zu suchen, wird gemäß neoliberalem Dogma an die Eigenverantwortung appelliert. Vor diesem Hintergrund fordert Jean-Philippe Kindler einer Repolitisierung wichtiger Lebensbereiche.

Am Beispiel von Armut zeigt der Autor, wie betroffene Menschen im öffentlichen Diskurs meist selbst für ihre Situation verantwortlich gemacht werden. Obwohl die Zahlen zu sozialer Mobilität eine andere Sprache sprechen, ist der Glaube tief verankert, dass Menschen sich aus ihrer Misere befreien können, wenn sie sich nur genug anstrengen. Der Grund dafür, dass sich in Deutschland der größte Niedriglohnsektor Europas befindet, sei allerdings das Ergebnis politischer Entscheidungen. Anstatt für ausreichend materielle Sicherung von Menschen zu sorgen, werden viele sozialpolitische Aufgaben an die Zivilgesellschaft ausgelagert, wo sich zum Beispiel Ehrenamtliche bei Tafeln um die Ärmsten der Gesellschaft kümmern. 

Auch wenn es um das eigene Glück und Wohlbefinden geht, herrschen individualistische Vorstellungen des guten Lebens vor. Mittels Achtsamkeitstrainings und Selfcare-Angeboten, die nicht zuletzt neue Vermarktungsmöglichkeiten schaffen, sollen Menschen am eigenen Selbst arbeiten. Glück wird somit zum erarbeitbaren Zustand. Gleichzeitig sind selbstoptimierte Individuen sehr nützlich für die kapitalistische Verwertung. Der Autor kritisiert in seinen Ausführungen auch die weitverbreitete Messung von Glück anhand subjektiver Indikatoren. Dabei gerate in den Hintergrund, dass Wohlbefinden ein Zielzustand sei, den es politisch zu erkämpfen gilt und der sich auch nach objektiven Kriterien festhalten lässt: leistbares Wohnen, gute Bildung oder eine geringe Ungleichheit.

In Bezug auf die Klimakrise fordert der Autor ebenfalls, weniger auf die Verantwortung von Privatpersonen zu pochen. Anstatt einzelne moralisch dafür zu verurteilen, wenn sie ihren Kaffee im Einwegbecher kaufen, sollten Einschränkungen dort stattfinden, wo auch wesentliche Effekte zu erwarten sind – zum Beispiel bei den hundert größten Konzernen, die für über 70 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich sind. Der hartnäckige Fokus auf Marktmechanismen zur Lösung der Klimakrise, etwa in Form Emissionszertifikaten, ermögliche es reichen Ländern stets, diese ärmeren Ländern abkaufen zu können, ohne den eigenen Verbrauch wesentlich senken zu müssen. Eine Repolitisierung würde bedeuten anzuerkennen, dass die Klimaziele mit einem entsprechenden Restbudget an Emissionen verbunden sind. Die damit einhergehenden Reduktionen müssten politisch ausgehandelt werden.

Dieses pointierte Buch ist vor allem als Appell an Linke zu verstehen, von denen sich viele inzwischen mit der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Kapitalismus abgefunden hätten. Anstatt sich lediglich um Schadensbegrenzung zu bemühen, also sich zum Beispiel für diskriminierungsfreie, diverse Räume einzusetzen, sollte linke Politik auch wieder auf die Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen abzielen. Denn das Ziel könne nicht sein, dass „die Arbeiterinnen im Amazon-Lager auch von Frauen, Queers und People of Color ausgebeutet werden“ (S. 21). Dafür müssten wir wieder lernen, unsere eigene Situation nicht nur als individuelles Schicksal wahrzunehmen, sondern sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sehen.