Europa: über 1992 hinaus

Ausgabe: 1989 | 3
Europa: über 1992 hinaus

Editorial 3/1989

Es ist eine Hauptaufgabe der Zukunftsforschung, über die Gegenwart hinausdenkend mittel- und langfristige Möglichkeiten zu erkunden, um sie rechtzeitig in den öffentlichen Diskussionsprozess einzubringen. So dürfen wir uns nicht durch die bevorstehende Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion durch die Mitgliedsländer der EG davon abhalten lassen, über diese Etappe hinauszudenken und neue Möglichkeiten aber auch neue Gefahren ins Auge zu fassen. Es fällt auf, dass eine Reihe essentieller europäischer Probleme bisher erst ungenügend und phantasielos angegangen worden ist. Folgende Fragenkomplexe verlangen dringend den Einsatz von mehr Wissen und Einbildungskraft:

  • wie können die industriellen Produktionsvorgänge so verändert werden, dass lebendige Menschen nicht immer mehr zu „Rädchen“ großer Maschinensysteme oder Organisationsstrukturen degradiert werden?
  • wie ist die Zunahme struktureller Arbeitslosigkeit zu vermeiden?
  • wie kann die rapide zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen schnell genug gestoppt werden ohne eine Wirtschaftskrise zu verursachen?
  • wie müssen die städtischen Lebensräume umgestaltet werden, um den fortschreitenden Verschlechterungen der Lebensqualität, insbesondere der Volksgesundheit, entgegenzuwirken?
  • wie kann angesichts der unvermeidlichen Wanderungsbewegungen einer Ausländer- und Zuwandererfeindlichkeit durch multikulturelle Lebensformen der Boden entzogen werden?
  • wie kann das Mitspracherecht der Benachteiligten (Frauen, Alte, Jugendliche, Asylanten) fester verankert werden?
  • wie kann man das erweiterte demokratische Mitspracherecht möglichst vieler in Politik und Wirtschaft verwirklichen?

Ansätze zur Lösung solcher über 1992 hinausweisenden Fragen gibt es. Aber sie sind meist noch zu wenig bekannt. So ist vom „International Institute for Applied Systems Anslysis“ (lIASA) in Laxenburg bei Wien kürzlich eine aufsehenerregende Zukunftsstudie mit dem Titel „Future Environments for Europe“ erarbeitet worden die den Regierungen klarmachen will, dass die Umweltprobleme des Kontinents bis zum Jahre 2030 explosiven Charakter annehmen können, wenn es nicht vorher gelingt, eine Reihe von chemischen „Zeitbomben“ zu entschärfen. Dr. W. Stigliani, der für diese prognostische Arbeit verantwortliche „Chief Scientist“ stellt die Frage, wie die höchst kritische Lage angegangen werden könnte und stellt fest, die Entscheidungsträger müssten eine fundamentale Veränderung ihrer Denkgewohnheiten („mind set“) wagen. Mehr noch: "Die Gesellschaften müssen bereit sein, kurzfristige Ziele zugunsten langfristiger Vorteile für künftige Generationen zu opfern.“ Wie wird das aber möglich sein, solange Manager an Ihre Jahresbilanzen (statt an Jahrzehnte- oder gar Jahrhundertebilanzen) denken müssen und Politiker sich an Wahlterminen statt an langfristigen Perspektiven orientieren? Solange „Zukunft“ für die meisten Menschen nur etwas ist, das sie entweder ängstlich auf sich zukommen lassen oder verdrängen, wird dieses Umdenken nicht stattfinden. Es ist unser Bemühen, diese unrealistische Haltung, die künftige Möglichkeiten nicht beachtet und nur die Gegenwart für „wirklich“ hält, zu beeinflussen. Glücklicherweise gibt es eine Vorhut von immer mehr Menschen, denen längerfristiges Denken schon selbstverständlicher wird. „Europa muss bei der Förderung einer erträglichen Entwicklung sowohl regional wie weltweit die Führung übernehmen.“ Diese Mahnung, die in der letzten Ausgabe der IIASA Zeitschrift „Options“ zu lesen ist, verdient gerade zu einem Zeitpunkt, da sogar die versteinerten Systeme im Ostblock in Bewegung geraten sind, gehört zu werden.