Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert

Ausgabe: 1996 | 2

Das Thema scheint wie geschaffen für Heiko Ernst, den Chefredakteur von "Psychologie heute" und seit zehn Jahren für seinen Verlag auch Wegbegleiter von PRO ZUKUNFT. Die Psychobilanz am Ende des Milleniums stellt sich für ihn als eine Gewinn- und Verlustrechnung dar: "Der Zugewinn an Mobilität, Information, an Genuß- und Konsummöglichkeiten, an Lebensdauer und Entscheidungsfreiheit wird bezahlt mit psychischen Einbußen, dem Verlust von Fähigkeiten und Sicherheiten, aber auch von. Unmittelbarkeit und unverstellter Welterfahrung. Die Entwicklung des Ichs in der Möglichkeitsgesellschaft hängt nach Ansicht des Diplompsychologen davon ab, wie erfolgreich das Selbst mit der Komplexität und der Ambivalenz des postmodernen Lebens fertig wird. Ernst spricht von der "Tyrannei der Möglichkeiten" und ortet einen immer stärker sich artikulierenden Überdruß am Überfluß. "Viele verweigern sich bereits dem lange Zeit verbindlichen Lebensmodell, sich Über materiellen Erfolg und Konsum zu verwirklichen." Die Gründe für eine Korrektur der Lebensgewohnheiten sind vielfältig, oft sind es, so der Autor, aber auch noch begrenzte und kompromißhafte Versuche durch Light-Produkte, alkoholfreie Biere, Süßstoff und etwas mehr Bewegung. Heute stehen wir, so Ernst, an einer Wegegabelung der Menschheit, "an der sie bei Strafe des Untergangs in Raten durch die ökologischen und ökonomischen Katastrophen die Strategie des ,immer mehr' wählen kann - oder aber den Übergang in eine Gesellschaft, die nachhaltiges Wirtschaften und vernünftiges Konsumieren lernt". Dann wird Konsum, wie bereits da und dort praktiziert, weder "verteufelt noch zum beherrschenden Lebensmotiv gemacht". Bei der Überprüfung des eigenen Lebens- und Arbeitsstils und des" Herunterschaltens " des Karrieremotors werden wir auch unser Zeitbudget überprüfen, das heute nicht nur durch die Arbeit, sondern durch eine Fülle nichtberuflicher Tätigkeiten überzogen wird. Einer Modellrechnung zufolge müßte der Tag nämlich 42 Stunden haben, damit ein Mensch alles erledigen könnte, was ihm von Experten empfohlen wird. Ob der Absurdität dieses Zeitplanes fordert der Autor die Kontrolle über die Lebensumstände und den eigenen Alltag. Als Lernziel für die Zukunft formuliert er die Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung, zur Introspektion und zur Achtsamkeit für unsere "inneren Zustände". Wir sollten mehr und mehr zu Planern und Konstrukteuren unseres Lebensentwurfs werden, der eine Sinnkonstruktion, ein Leitmotiv beinhaltet, und darüber hinaus auch lernen, mit der eigenen Unvollkommenheit und all den sie begleitenden Widersprüchen zu leben. A.A.

Ernst, Heiko: Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert. München (u.a.): Pipet, 1996. 213 S.