Noch gibt es sie nicht, die öffentlichen Plätze, an denen festgefahrene Weltanschauungen aufgebrochen, im sinnvollen Gespräch die Kunst des Lebens geübt, neue Sprachspiele erprobt und gespielt, ungezwungen Utopien entworfen und Eigenverantwortung gegen die Fremdbestimmung eingetauscht werden können. Aber im Blick auf die akademische Ausbildung, die von stiller Lektüre und Einzelvorträgen in überfüllten Lehrsälen geprägt ist, nimmt sich die Vision einer allgemeinen Philosophischen Praxis radikal anders aus. In Erneuerung sokratischer Tradition plädiert Witzany für einen "bewußten Ent-Täuschungs-Prozeß durch welchen der "Kommunikationsdeformation " der Moderne entgegengewirkt werden kann. Die Praxis des philosophischen Dialogs korrigiert die nach Descartes so wirkungsvolle Einsicht, daß Erkenntnis eine Leistung des Einzelsubjekts sei. Dagegen wird nun zunehmend die" Intersubjektivität sprachkompetenter Interaktionspartner/J als Voraussetzung jeder Erkenntnis nachgewiesen. Das Dilemma der Moderne liegt nicht zuletzt darin begründet, daß wir in jedem Dialog eine ideale Gesprächssituation voraussetzen, in der Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit selbstverständlich angenommen werden, moralisch jedoch weit davon entfernt sind, diese Kategorien zur Grundlage unseres Handelns zu machen. Die vielfältigen Folgen dieses W1iderspruchs sind Gegenstand der Philosophischen Praxis, in welcher durch die Entwicklung selbstbestimmter, geschichtsbewußter Handlungsweisen ... ·eine Art Rückgewinnung bereits besetzter und bedrohter Lebensbereiche" angestrebt wird. Welch breites Spektrum an Fragestellungen dialogisierend im wahrsten Sinne des Wortes abgeschritten wird, vermitteln die Beiträge dieses Bandes. Von global orientierter Ethik, Reflexionen über die Postmoderne, über abendländische Mißverständnisse im Verhältnis zu Natur und Erziehung bis hin zu den Defiziten der ökonomischen Vernunft reichen die Themen. , Das ernsthafte Bemühen, Fragen diskursiv zum Gewinn aller Beteiligten zu klären, unterscheidet das Konzept der Philosophischen Praxis gleichermaßen von psychotherapeutischer Betreuung und belanglos hitzigem Stammtischgepolter. Erstaunlich, mit weicher Sicherheit Witzany teils neue Antworten auf aktuelle Themen der Zeit sucht, und jedermann einlädt, ihn bei seinen Spaziergängen zu begleiten. (Die seit 1985 vom Autor in Salzburg offerierte Philosophische Praxis erfreut sich wachsenden Interesses. Ein Zeichen auch dafür, daß im Zeitalter der Informationsfülle die Möglichkeiten sinnerfüllter Kommunikation kaum noch gegeben und daher neu entdeckt werden müssen.)
Witzany, Günther: Philosophieren in einer bedrohten Welt. Vorträge und Essays wider die technokratische Vernunft. Essen: Verlag Die blaue Eule, 1989. 155 S.