Gerard Delanty (Hg.)

Pandemics, Politics, and Society

Online Special
Pandemics, Politics, and Society

Bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie seit März 2020 stehen die Fachleute – aus den Bereichen Virologie, Medizin, Gesundheitspolitik – im Vordergrund. Je deutlicher die tiefgreifenden sozialen, politischen, wirtschaftlichen, psychischen Folgen der Krise werden, umso wichtiger wird die Einbeziehung anderer Disziplinen. Mit dem Band liegt eine frühe Sammlung sozialwissenschaftlicher Perspektiven vor, aus der Feder renommierter Autor:innen wie Claus Offe, Helga Nowotny oder Bryan S. Turner.

In der Einleitung stellt Delanty die Pandemie in einen historischen Zusammenhang, u. a. der Geschichte der Erforschung von Viruskrankheiten. Mit der Entwicklung von Antibiotika und Impfungen schien das Ende von Epidemien in Sicht gekommen zu sein. Die gegenwärtige Pandemie stellt diese Erwartung und den modernen „Mythos einer krankheitsfreien Welt“ (S. 9) in Frage – in Zukunft stehen uns weitere Pandemien aufgrund zoonotischer Krankheiten bevor. Die Pandemie bestätige einer der wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre, die u. a. mit den Arbeiten von Bruno Latour verbunden sind (im Buch zu „Labour“ entstellt): Gesellschaftliche und natürliche Welten sind nicht getrennt, sondern miteinander verbunden. Delanty meint, dass nur „Herdenimmunität“ eine Abhilfe schaffen könne, solange kein Impfstoff existiert (S. 13) – der Beitrag ist vor der Entwicklung der Impfstoffe verfasst worden. Das könnte den pessimistischen Ton erklären, u. a. die Furcht vor einer Militarisierung demokratischer Staaten, um die Krankheit zu kontrollieren.

Im Beitrag „Tipping Points: The Anthropocene and Covid-19“ (S. 123ff.) stellt Eva Horn, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Wien, den Zusammenhang zwischen dem Konzept des „Anthropozäns“ und der Coronakrise über den Begriff Kipppunkte her: Ereignisse, „die langsame Latenzperioden mit plötzlichen raschen Eskalationen kombinieren“ (S. 124).

Auch im Beitrag von Albena Azmanova „Battlegrounds of Justice: The Pandemic and What Really Grieves the 99%“ (S. 243ff.) ist erkennbar, dass er am Beginn der Pandemie verfasst wurde. Etwa wenn sie davon schreibt, dass der reiche Westen von der Pandemie am meisten betroffen sei (S. 248) – was sich später veränderte. Ihre These – die Pandemie habe die soziale Fragilität der kapitalistischen Demokratien überdeutlich gemacht (ebd.) – müsste erweitert werden: In der Pandemie ist tatsächlich die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit aller politischen Systeme zutage getreten. Azmanova stellt die Pandemie in den Kontext der Kämpfe um soziale Gerechtigkeit. Gerade bei der Bekämpfung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zeige sich der Grundkonflikt zwischen dem dominierenden Paradigma Wirtschaftswachstum und Ökologie: Verfolgt man soziale Gerechtigkeit über Wirtschaftswachstum und Verteilung, so unterminiere das gleichzeitig ökologische Gerechtigkeit, „ohne die sozio-ökonomische Infrastruktur des neoliberalen Kapitalismus entscheidend zu ändern“ (S. 247).

Die Beiträge enthalten wichtige Reflexionen und Beobachtungen. Sehr weiterführend und erhellend ist etwa der Text von Helga Nowotny „In AI We Trust: How the Covid-19 Pandemic Pushes us Deeper into Digitalization“ (S. 107ff.) – Überlegungen, die sie im September 2021 in erweiterter Form im gleichnamigen Buch veröffentlichte. Andererseits verdeutlicht das Buch, dass publizistische Schnellschüsse bei einer derart dynamischen, sich rasch verändernden Entwicklung wie der COVID-19-Pandemie riskant sind, weil viele Einschätzungen und Schlüsse beim Erscheinen bereits überholt sein können.