Fabian Scheidler

Der Stoff, aus dem wir sind

Ausgabe: 2021 | 4
Der Stoff, aus dem wir sind

Mit Das Ende der Megamaschine und Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen hat der Berliner Autor Fabian Scheidler die Tiefenstrukturen der industriellen Zivilisation herausgearbeitet. Die zentrale These dabei: diese Zivilisation ist nicht nachhaltig und werde an ihren „Erfolgen“ scheitern. In seinem aktuellen Buch Der Stoff, aus dem wir sind wendet sich Scheidler den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften, der Physik, der Chemie, der Biologie und Evolutionsforschung, zu. Dabei interessiert ihn insbesondere unser Verhältnis zur Natur, besser, die Abspaltung der Natur im westlichen Denken und Handeln, als etwas, das „da draußen“ existiert; eine „Umwelt, die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehören: der Zivilisation“ (S. 10). Drei Thesen formuliert Scheidler, die er aus neuen Erkenntnissen etwa der Quantenphysik oder der Neurobiologie destilliert: „Erstens zeigt sich der Stoff aus dem wir sind, als immer rätselhafter, je tiefer die Wissenschaft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologischen Kollaps – und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust“ (ebd.). So hoch die Mauern auch sind, die wir durch Technik zwischen uns und der „Umwelt“ errichten, so sehr würden sich diese am Ende als Illusion erweisen. Die permanente Erneuerung unserer Zellen durch Atmung und Stoffwechsel sind für Scheidler ein Beispiel dafür: „Der Stoff da draußen ist unser Stoff. Was wir ihm antun, tun wir letztlich uns selbst an.“ (S. 11) Pandemien wie Covid-19 würden zeigen, dass die Vorstellung, es gebe eine von uns getrennte Natur, mit der wir beliebig verfahren können, eine „tödliche Täuschung“ sei (ebd.).

Auf unsere Wahrnehmung berufen

Scheidler ist nicht gegen naturwissenschaftliche Forschung. Im Gegenteil: deren Erkenntnisse (sie werden in den ersten Kapiteln des Buches ausführlich beschrieben) würden etwas ganz anderes als eine tote Welt isolierter Objekte offenbaren: „ein Universum, das auf Verbundenheit, Selbstorganisation und Kreativität beruht.“ (S. 15) Die Rätsel unserer Existenz würden durch die Wissenschaften keineswegs gelöst, „sondern vertieft, präzisiert und in immer größerer Deutlichkeit“ sichtbar (S. 18). Zudem gehe es aber darum, uns wieder auf unsere Sinne und die unmittelbare Wahrnehmung zu berufen: „Wir wissen, wie es ist, Farben zu sehen, Musik zu hören, etwas zu riechen, Schmerz oder Freude zu empfinden. Wir wissen, wie sich ein rauer Stein anfühlt und die Haut eines anderen Menschen. Wir wissen, was es heißt, sich an jemanden zu erinnern.“ (S. 13) Der Autor spricht hier von einem „weiten Land“, einem „Weltinnenraum“ (ebd.), der jedem offensteht.

Scheidler kritisiert die Zukunftsblindheit unserer Zivilisation und die Beschränkung auf Technologien, die „der Geld- und Machtakkumulation dienen“ (S. 19). Statt ernsthafte Programme für einen grundlegenden und raschen Umbau der Gesellschaft zu starten, gebe es lediglich Lippenbekenntnisse, Ablenkungsmanöver und bestenfalls unzureichende kosmetische Reparaturen. Seine Diagnose: „Obwohl unser Leben immer mehr von Technik und Wissenschaft geprägt wird, erweist sich unsere Gesellschaft ausgerechnet, wenn es um unser Überleben geht, als strukturell irrational.“ (ebd.)

Wo liegen Zukunftswege?

Doch was ist zu tun, wo liegen Zukunftswege? Scheidler plädiert für die Abkehr vom „homo technocraticus“ (S. 116) sowie für die Verbindung von Wissenschaft und Sinnlichkeit („Humor/Spiel, Schönheit, Erleben, Miterleben“, S. 203). Hilfreich sei auch die Berücksichtigung anderer Denkweisen und kultureller Praktiken, etwa „indigene Kosmologien“ (S. 187) oder Techniken wie das Wasserversorgungssystem des „Subak“ auf Bali (S. 191ff.). Ganz praktisch gehe es um eine Transformation der Ökonomie und den „Umbau der institutionellen Logiken“ (S. 224). Scheidler wirbt für Wirtschaftsdemokratie und begrüßt insbesonders den Ansatz der „Gemeinwohlökonomie“. Er nimmt aber auch die Staaten in die Pflicht, die nach wie vor große Kapitalgesellschaften systemisch bevorzugen würden und sich noch nicht aus der Fossilwirtschaft zurückgezogen hätten. Eine „Politik der Verbundenheit“ (S. 228) würde Teilhabe und planetare Verantwortung bedeuten, was auch bedeutend mehr Interesse der Bürger:innen an politischen Fragen erfordere („Solange sich in einem Land wie Deutschland, mit einem durchschnittlichen Konsum von audiovisuellen Medien von über acht Stunden pro Tag, die meisten Bürger und Bürgerinnen nicht einmal eine Stunde täglich öffentlichen Belangen widmen wollen, ist an eine Vertiefung der Demokratie nicht zu denken.“ S. 231). Nicht zuletzt bräuchten wir eine neue Sicht auf Wissenschaft, Bildung und Gesundheit.

Resümee: Ein tiefgründiges Buch mit wichtigen Einsichten. Die notwendige Transformation muss freilich in konkreten, praktischen Schritten, Maßnahmen und Zukunftsprojekten erfolgen.