Bürgerengagement in Deutschland

Ausgabe: 2001 | 3

Bürgerschaftliches Engagement ist im Gespräch. Quer durch alle politischen Lager wird es als Herausforderung und Chance benannt, oft kritisch kommentiert, und erweist sich doch bei genauerem Hinsehen als zugleich komplexes, vielfach diffuses und in weiteren Bereichen noch auszudifferenzierendes Theorem.

In dieser Situation leistet der hier angezeigte Band wertvolle Hilfestellungen, indem in nicht weniger als 24 Beiträgen (1.) der Stand der wissenschaftlichen und politischen Diskussion zusammengefasst, (2.) gesellschaftstheoretische Dimensionen des BürgerInnenengagements (BE) ausgelotet, (3.) empirische Befunde referiert und (4.) politische Initiativen und Förderstrategien – überwiegend anhand konkreter Beispiele – vorgestellt werden.

Einleitend arbeiten die Herausgeber – R. G. Heinze ist Sozialwissenschaftler in Bochum, Th. Olk Erziehungswissenschaftler in Halle – die mit dem Begriff des BE verbundenen Diskursebenen heraus: die Reform des Sozialstaats, die Folgen der Individualisierung, die Weiterentwicklung der Demokratie sowie die Zukunft der Arbeitsgesellschaft werden mit durchaus unterschiedlichen Erwartungen an die „BürgerInnengesellschaft“ verknüpft. Um so mehr sei darauf zu achten, BE nicht als „Lückenbüßer für minimalstaatliche Sparstrategien oder allfälligen Problemlöser (...) zu instrumentalisieren“ (S. 13). Es gelte vielmehr, der Rolle des „aktivierenden Staates“ in der Funktion des „moderierenden Ermöglichers“ mit dem Ziel der „Steigerung von Gerechtigkeit, Effizienz und gesellschaftlicher Wohlfahrt durch eine Neuverteilung von Verantwortlichkeiten (...)“ Kontur zu verleihen (S. 20).

„Gesellschaftliche Räume und Gelegenheiten für die Verwirklichung von Engagement zu schaffen“ (S. 58), bezeichnet demnach auch Th. Olk als zentrale Herausforderung; zugleich fordert er dazu auf, auch die Ängste der in der öffentlichen Verwaltung und im Dritten Sektor Erwerbstätigen ernst zu nehmen. Heiner Keupp benennt mit der weiteren Erkundung der subjektiven Erwartung der im Bereich des BE Tätigen, den „sozialen Figurationen“ in den Institutionen sowie den Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche „soziale Kapital“ zentrale Forschungsdesiderata eines noch jungen Politikbereichs. Dem Wandel des Wohlfahrtsstaates zum aktivierenden Staat (dargestellt anhand zahlreicher empirischer Befunde zu Ausmaß und Verteilung von BE in Deutschland), der „Neuen Arbeitsgesellschaft“ (mit dem wachsenden Bedürfnis nach pluralen Tätigkeits– und Zeitprofilen), dem Zusammenhang von sozialem Engagement und sozialer Sicherung (mit den jeweils unterschiedlichen Agenden von Bund und Ländern) gelten Überlegungen des 2.  Abschnitts.

Im (3.), primär der Darstellung und Analyse empirischer Daten vorbehaltenen Teil werden Potenziale und strukturelle Veränderungen von Ehrenamtlichkeit in verschiedenen soziokulturellen Kontexten (Wohlfahrts–, Jugend–, Sport–  und Umweltverbänden) thematisiert, die Rolle von Frauen und älteren Menschen im Kontext von BE aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und Vergleiche zwischen BE in West– und Ostdeutschland sowie der BRD und den Niederlanden angestellt (wo, so ein Detail, die Vermittlung von „civil skills“ einen wesentlichen Aspekt des Bildungswesens darstellt). Einen kritischen Akzent in der Fülle des hier präsentierten Materials setzen Kister/Schäfer-Walkmann/Sing, die im Vergleich demografischer Erhebungen teils weit von einander abweichende Parameter ausgemacht haben und hinsichtlich der Verlässlichkeit empirischer Erhebungen in diesem Kontext von „einem Tanz auf dünnem Eis“ sprechen. (vgl. S. 361ff.). So tut man wohl auch gut daran, die Erwartung von H. Klages mit Vorsicht aufzunehmen, wenn er in Anbetracht des sondierten „riesigen brachliegenden Engagementpotentials“ einem „großen weiteren Aufbruch der Gesellschaft zur Bürgergesellschaft“ entgegensieht (S. 327).

Besondere Aufmerksamkeit verdient der 4. Abschnitt. Es werden darin konkrete Beispiele politischer Förderung von BE präsentiert - u.a. Förderkriterien und Erfahrungen des „Landesnetzwerks BE in Baden-Württemberg“, Jugendengagement durch das Land Hessen (nicht als Ergänzung professioneller Arbeit, sondern im Wissen um die Bedeutung und Qualität des sozialen und gesellschaftlichen Engagements von jungen Menschen) – und modellhafte Projekte vorstellt. Das Spektrum reicht dabei von Initiativen zur Revitalisierung von Nachbarschaften im Bereich der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft (in Bayern sind bereits 64% der Unternehmen im Sozialen Management aktiv), über Beispiele von Seniorenengagement durch Nachbarschaftshilfe (Lünen) bis hin zu dem von der Bertelsmann Stiftung und dem Verein „Aktive Bürgerschaft“ (Münster) initiierten Projekt „Bürgerorientierte Kommune“, das sich die Stärkung der Demokratie zur Aufgabe gemacht hat.

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Wenngleich die in Sammelbänden häufige Wiederholung so mancher Argumentationslinie auch hier nicht zu vermeiden war, so ist dieser Band in der Verbindung von sozialwissenschaftlich fundierter Darstellung, politisch richtungsweisenden Konzepten und ermutigenden Berichten aus der Praxis ausgewogen und daher für in allen drei Bereichen an der Zukunft der „BürgerInnengesellschaft“ Interessierten zu empfehlen. W. Sp.

Bürgerengagement in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Opladen: Leske + Budrich, 2001. 571 S., DM 49,- / sFr 45,50 / öS 358,-