Thomas Biebricher

Mitte/Rechts

Ausgabe: 2023 | 3
Mitte/Rechts

Den Verschiebungen in den politischen Systemen Westeuropas ist Thomas Biebricher auf der Spur. In seinem Buch „Mitte/Rechts“ fragt er, wie der Bedeutungsverlust der Parteien der rechten Mitte, der christdemokratischen, konservativen Parteien, zu erklären ist. Zu diesem Zweck analysiert er deren Entwicklung in Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien.

Thomas Biebricher ist Politikwissenschaftler. Er ist Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Um seine Fragestellung zu beantworten, muss er zuerst den Untersuchungsgegenstand ab-grenzen. Was sind eigentlich konservative Parteien? Wofür steht politischer Konservativismus? Scheint diese Frage auf den ersten Blick einfach zu beantworten, so wird man bei jedem Versuch, dies zu formulieren, merken, dass dies gar nicht so offensichtlich ist. „Konservative Parteien verteidigen den Status quo“ greift nämlich zu kurz: Denn sie tun dies seit Jahrzehnten – während der Status quo sich immer wieder verändert hat.

Im Kampf gegen Veränderung

Es ist einfacher zu zeigen, wogegen Konservative sind. Die Feinde des Bewahrenswerten sind die Gruppen, die die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft überschätzen. Konservative gehen von der Fehlbarkeit der menschlichen Ratio aus und fürchten die doktrinäre Überhöhung der Vernunft. Sie bevorzugen die Beibehaltung des Status quo gegenüber allen Ideen, die von Menschen als großartige Verbesserungen präsentiert werden.

Schwieriger ist zu erklären, wofür Konservative sind. Biebricher meint, dass dies mit dem Konzept einer „normativen Natürlichkeit“ möglich sei. Das Natürliche, verstanden als das Gottgewollte, Menschengerechte oder geschichtlich Gewordene, sei letztlich das Bewahrenswerte. In jeder historischen Phase wird anhand dieser Kriterien gesucht, was gegen Veränderung durch Menschen geschützt werden soll.

Die Konservativen werden aber erst auf den Plan gerufen, wenn die Veränderung durch andere angestrebt wird. Biebricher zitiert Karl Mannheim: „Dieses originäre konservative Erleben wird da reflexiv, seiner Eigenart bewußt, wo in dem Lebensraume, […] in welchem es vorhanden ist, bereits andersgeartete Lebenshaltungen und Denkweisen auftreten, von denen es sich in ideologischer Abwehr abheben muß“ (S. 31) Konservatives Denken ist also auf seine Gegner:innen angewiesen.

Das markiert auch den Unterschied zwischen Traditionalismus und Konservativismus. Traditionalist:innen sind aktiv, gerade wenn Meinungen, Verhaltensweisen und Bräuche nicht in Frage gestellt sind. Konservative beginnen ihr Tagwerk im Moment der Infragestellung des Althergebrachten. Wahrscheinlich wird so bereits klar, dass die Konservativen typischerweise in Kämpfe ziehen, wenn die Gesellschaft beginnt, sich von einem bestimmten Bisherigen zu verabschieden. Konservative kämpfen erst, wenn etwas „ins Rollen geraten“ ist. Deswegen ist die Geschichte mit allen ihren politischen und kulturellen Änderungen in den letzten 200 Jahren voll von Niederlagen der Konservativen.

Spielarten des Konservativismus

Biebricher setzt an dieser Stelle an, um den Konservativismus auszudifferenzieren. Welche Art von Konservativen uns gegenüberstehen, erkennt man an der Art, wie diese auf den Wandel – der entgegen ihren Wünschen stattgefunden hat – reagieren. Die erste Möglichkeit der Reaktion ist eine Mischung aus Fatalismus und Lakonie. Die Geschichte wird hier als eine Art Verfallsprozess gesehen, dem man sich entgegenstellen kann, jedoch ohne Chance, ihn aufzuhalten. Dies zeichnet einen kulturpessimistischen Konservativismus aus.

Die zweite Möglichkeit ist ein Umgang mit den Veränderungen „in guter Laune und Gelassenheit“ (Biebricher zitiert hier den Historiker Andreas Rödder). Man stemmt sich gegen Neuerungen, doch wenn diese Wirklichkeit geworden sind, „wischt man sich schulterzuckend den Mund ab und erklärt kurzerhand den neuen Status quo zur Geschäftsgrundlage des konservativen Projekts“ (S. 35). Dieser Gruppe geht es darum, die eigenen Überzeugungen nicht absolut zu setzen und für das vielleicht höchste „Gut der Stabilität“ auch die unappetitlichsten Kröten zu schlucken.

Es gibt aber auch eine dritte Art, wie Konservative auf den Wandel reagieren. Biebricher spricht von autoritärer Reaktion. Es handelt sich für den/die Konservative:n um das Ausagieren „der aufgestauten Frustration, was aus seiner Perspektive durch eine vermeintlich eindeutige Bilanzierung gerechtfertigt“ sei (S. 49). Diese Gruppe weise unter einer dünnen Schicht bürgerlicher Orientierungen zutiefst autoritäre Dispositionen auf, so der Autor mit Bezug auf die Arbeit des Soziologen Wilhelm Heitmeyer.

Leicht sind in diesen drei Reaktionsarten die Spielarten des Konservativismus zu erkennen. Vor allem der Autoritarismus befindet sich in Form neuer rechter Parteien im Aufschwung, während eine CDU Angela Merkels mit ihrer Akzeptanz gesellschaftlicher Meinungsverschiebungen (z. B. Atomausstieg, LGBTQIA*-Rechte u. a.) in die Defensive geraten ist.

Gefährliche Konkurrenz für die rechte Mitte

In seiner Studie versucht der Autor die Konkurrenzsituation zwischen diesen Versionen des Konservativismus zu beschreiben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass nationale Besonderheiten eine sehr große Rolle spielen. Allgemein für Westeuropa weist er auf drei Entwicklungen hin. Erstens kommt es durch den Strukturwandel in der Medienlandschaft zu einer klaren Entwicklung in Richtung Persönlichkeitswahlen. Zweitens fallen die Feindbilder Kommunismus (kollabiert) und Sozialdemokratie (massiv geschwächt) als Bezugspunkt kaum mehr ins Gewicht. Drittens verschieben sich die Debatten aufgrund geringer wirtschafts- und finanzpolitscher Spielräume nationalstaatlicher Regulierung in die Kulturalisierung der politischen Auseinandersetzung. Damit stehen für Konservative die kulturpolitischen Kämpfe („woke wars“) inklusive der Fragen der Migrationspolitik immer öfter im Mittelpunkt. Biebricher meint, dass Letzteres eine nicht zu unterschätzende Absturzgefahr für die Mitte-Rechts-Parteien im Konkurrenzkampf zum autoritären Konservatismus mit sich bringe.