In den Massenmedien ist es oft zu sehen, zu hören und zu lesen: Unsere Gesellschaft ist zunehmend von Spaltungsdynamiken geprägt, so zumindest die These. Auch in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur ist die Annahme weit verbreitet: zunehmende Individualisierung oder gar Singularisierung treiben uns auseinander, polarisieren und machen Konflikte zu teils unüberwindbaren Gräben.
Spaltungsthese wird instrumentalisiert
Jürgen Kaube und André Kieserling setzen sich in „Die Spaltung der Gesellschaft“ kritisch mit dieser verbreiteten Gesellschaftsdiagnose auseinander. Ihre Vermutung: Die Spaltungsthese wird instrumentalisiert, um bestimmten Konflikten mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, sie medial aufzuwerten oder Entscheidungen zu vermeiden.
Sie definieren Spaltung als schwerwiegenden Konflikt um die nationale Einheit, der ganze Bevölkerungsgruppen umfasst: „Bloßer Streit, er mag noch so heftig sein, reicht also nicht aus, um von gesellschaftlicher Spaltung zu sprechen“ (S. 42). Sie stellen dabei fest, dass Spaltung auch verallgemeinert wird, um sie einer ganzen Gesellschaft zuschreiben zu können. Bei genauerem Hinsehen kristallisieren sich jedoch viele Linien und Varianten heraus, die sich nicht kausal zu einer generellen Spaltung zusammenfassen lassen. Im Verlauf der Argumentation werden daher einige dieser Spielarten wie politische Polarisierung, Impfpflicht-Konflikt (Entscheidungsvermeidung) und Identitätspolitik beleuchtet, um zu zeigen, dass die gesellschaftlichen Realitäten nicht die oft behaupteten tiefen Spaltungslinien aufweisen.
Zugleich betonen die Autoren das integrierende Potenzial von Konflikten. In einer Demokratie sind Konflikte gar unabdingbar, um gesellschaftlich relevante Fragen auszuhandeln. Folgt man nicht der attestierten „Angstlust“, so zeigt sich schnell, dass soziale Veränderungen eng mit Konfliktbearbeitung zusammenhängen und nicht zwangsläufig in einer Spaltung der Gesellschaft enden. Somit ist es in diesen medialen Auseinandersetzungen angebracht, kritisch zu reflektieren, wer solche Diagnosen wann und warum erstellt und ob sich darin tatsächlich gefährliche Dynamiken verbergen oder andere Motivationen ablesbar sein könnten.
Das Buch fordert dazu auf, den Begriff der „Spaltung“ in der gesellschaftlichen Diskussion kritisch zu hinterfragen, die Rolle der öffentlichen Meinung bei der Entstehung dieser Diagnose zu überdenken und Angst schürenden Thesen nicht blind zu folgen – eine Aufforderung, die in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie sicherlich auf weitere zeitgenössische, diagnostische Annahmen über die Gesellschaft übertragbar ist.
Eine differenzierte Perspektive
Kaube und Kieserling bieten mit dieser Analyse eine differenzierte, soziologische Perspektive auf das Thema und zugleich eine teils amüsante, teils provokante Auseinandersetzung an, die nicht die Ernsthaftigkeit für die Konsequenzen unreflektierter Angstmacherei verliert – denn glaubt man nun an die Spaltung der Gesellschaft oder nicht: Die Wirkung dieser unhinterfragten Thesen schlägt sich nieder, auch wenn der Ursprung als fragwürdig einzuordnen ist. Die These einer unmittelbaren Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft bestätigen sie nicht, und liefern damit einen wichtigen Teil zur Entschärfung solcher Annahmen.