In „Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute“ verhandelt Benno Gammerl die queeren Narrative der deutschen Geschichte und zeigt auf, dass diese keiner gradlinigen Genealogie, keinem Fortschrittsdenken folgen, sondern sich vielmehr durch queere und damit ambivalente Zeitläufe in die Geschichte einschreiben.
Eine queere Geschichte zu schreiben, heißt mit Gammerl, die Gegenwart immer neu mit verschiedenen Momenten der queeren Vergangenheit Deutschlands zu verknüpfen und somit Resonanzen in die Gegenwart zu werfen. Die Überlagerung einer queeren Geschichte für die Gegenwart zu denken, heißt auch, ihr blühendes Aufleben in den 1920er, den 1970er und den 2010er Jahren exemplarisch mit ihren Schattenseiten zu verbinden. Verbesserungen, Freiräume und Rechte gehen oft gleichzeitig mit -ismen wie Rassismus oder Klassismus und Hass einher. Auch Strafverfolgung, Demütigung und Homophobie offenbaren sich in allen Zeitschichten in unterschiedlichsten Gesichtern wieder. Eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit, die unsere Gegenwart nur zu gut kennt.
Gleichsam macht Gammerl mit seinem Buch einen wichtigen Schritt in die Vergangenheit, in unvollständige und zukünftige, queere Archive, um den Blick auf deutsche Geschichte zu erweitern. Er folgt der Frauenbewegung des Kaiserreichs in ihre Begrifflichkeiten, Normen und Biografien einer Minna Cauer, Anita Augspurg oder Lily von Gizycki, bis hin zu ihrem sexualreformerischen und homophilen Kern. Er zeigt auf, wie Transvestiten oder die „neuen Frauen“ die Geschlechtermode ins Wanken brachten und neue Formen der Emanzipation erfanden. Er thematisiert auch die Stigmatisierung und strafrechtliche Verfolgung dieser Zeit, die durch eine homophobe, christliche Sexualmoral geprägt war und später im Krieg zu vielen Toten im KZ führte, auf. Auch die Bedeutung der Wissenschaften findet hier ihren Platz: Breiteten sich schon im Kaiserreich die Sexualwissenschaft wie auch die Psychologie als neue Forschungsfelder in der deutschen Wissenschaftslandschaft aus, nicht zuletzt mit historisch so prägnanten Namen wie Magnus Hirschfeld oder auch Sigmund Freud, führte dieses Wissen nicht immer nur zu positiven Erneuerungen für die gleichgeschlechtliche Liebe, wie Gammerl aufzeigt. Eine Pathologisierung war die Folge, welche in den Kriegsjahren zumeist zum Tode, aber auch in den Nachkriegsjahren und wieder in der DDR, wie auch in der BRD, zu Strafverfolgung und Diskriminierung führte.
Gammerl geht aber weiter und deckt nicht nur vergessene Biografien wieder auf, sondern eröffnet auch einen Blick auf ein breites literarisches Spektrum queerer Literatur, insbesondere auf eine Reihe an Magazinen, die gleichgeschlechtliche Liebe zum Inhalt hatten und seit dem Kaiserreich immer wieder verboten oder neu aufgelegt wurden. Sie verweisen sowohl auf historische Spaltungen in den Befreiungs- und Aktivist:innenkreisen, wie auch auf ihre Strategien und Siegeszüge. Sie sprechen von einem Kaiserreich wie von einer Nachkriegszeit, von den 1970er Jahren bis heute, in welchen die Ambivalenzen queeren Lebens zwischen Sorge und Aktivismus, Liebe, Kunst, Wissenschaft und Angst verortet ist. Gammerl zoomt hier näher an Berlin heran, das Eldorado der Bars und Nachtclubs, Travestien und anderer subkultureller Safe Spaces, in welchen alle Spielarten des gender-nonkonformen Lebens Platz fanden. Auch hier zeigen sich Konfliktlinien, die sich durch die eine queere Geschichte ziehen. Die Gegensätze zwischen Subkultur und Szene, Aktivismus und Politik zeigen sich bis heute als queere Kritik sowohl innerhalb als auch außerhalb der Szene. Queere Lokalitäten, Klappen und andere Treffpunkte ziehen sich durch die deutsche Geschichte wie leuchtende Glühwürmchen, die wieder in der Nacht verschwinden. Mal als Treffpunkt künstlerischer, intellektueller und gender-nonkonformer Lebensformen, mal als einzige Möglichkeit, den eigenen Neigungen nachzugehen, trotz strafrechtlicher Verfolgung und Gefährdung. Eng an diese lustvolle, sichtbare, konsumistische und gleichsam subversive Form des Auslebens gender-nonkonformer Treffpunkte und Festivitäten war auch das Strafrecht gebunden, das sich als Konstante durch die queeren Zeitverläufe zieht. Gammerl zeigt auch auf, inwiefern verschiedene Formen von Queerness zu verschiedenen Formen der Strafverfolgung führten. Waren homosexuelle und trans* Menschen strafrechtlich mehr betroffen als lesbische Menschen, so zwang das Recht Frauen bis in die 1970er Jahre in eine ökonomische Abhängigkeit und damit in die patriarchale Ehe, die für so manche, wie Gammerl es beschreibt, ebenso zum Gefängnis wurde. Eine queere Geschichte des Leids und der Ungerechtigkeit, aber auch der Siege, der Lust und der Befreiung – eine queere Geschichte eben, die sich immer nur durch viele Perspektiven lesen lässt.
Eine Geschichte, die deutlich macht, dass die deutsche Vergangenheit ohne die Inklusion queerer Perspektiven nicht nur unvollständig, sondern auch unzulänglich bleibt und vielschichtig bleiben muss. In diesem Sinne ist Benno Gammerls Buch ein wissenschaftshistorisch spannender und wichtiger Beitrag zur deutschen Geschichte.