Der deutsche Arzt und Publizist Till Bastian hat sich Herrn Keuner zum Vorbild genommen: Wie die berühmte Brecht-Figur liefert er keine fertigen Antworten, sondern stellt scheinbar Selbstverständliches in Frage und regt sein Publikum zu eigenständigem Denken an. Jenen Kollegen, die für alle Probleme eine Lösung parat haben, steht er hingegen äußerst skeptisch gegenüber.
Das enfant terrible des deutschen Ärztestandes übt heftige Kritik an der naturwissenschaftlich-technischen Schulmedizin, ohne doch ihre wertvollen Errungenschaften zu leugnen und ohne dabei ins Fahrwasser der Alternativmedizin zu geraten. Schließlich ähneln diese beiden konkurrierenden Zweige der Heilkunst einander mehr, als ihre Anhänger wahrhaben möchten, werden sie doch beide den komplexen Zusammenhängen der Krankheitsentstehung nicht gerecht. Bastian wendet sich gegen das hier wie dort dominierende monokausale Denken und faßt Krankheit als ein soziales und ökologisches Geschehen auf, an dem meist eine Vielzahl kleiner, unauffälliger, einzeln verkraftbarer, sich aber in ihrer Wirkung multiplizierende Faktoren beteiligt sind. Besonders wichtig und zukunftsträchtig erscheint ihm die Psychosomatik. Sie könnte durch die Forschungsergebnisse der Psychoimmunologie Auftrieb gewinnen, wenn nicht die Trägheit des "medizinisch-industriellen Komplexes" dies verhindert, wenn also nicht weiterhin einseitig in noch teurere und aufwendigere Apparaturen und noch mehr Medikamente investiert wird. Bastian hütet sich aber auch davor, die durch Umweltgifte und schlechte materielle Lebensbedingungen verursachten Gesundheitsschäden zu verharmlosen, wofür gerade die Psychosomatik gelegentlich herhalten muß. („Alles nur psychisch!")
Der zweite Teil des Buches ist einzelnen Krankheitsbildern gewidmet. Hier erweist sich so manche aufwendige Behandlungsmethode als ziemlich nutzlos, wie denn überhaupt der viel gepriesene technische Fortschritt der Medizin in den letzten Jahren kaum mehr zu einer Erhöhung der allgemeinen Lebenserwartung geführt hat. Diese könnte nur durch eine Veränderung der alltäglichen Lebensgewohnheiten eintreten. Bastian plädiert "für ein neues (Selbst-)Verständnis der Krankenrolle" (S. 101). Anstatt ungesund weiterzuleben und auf die Reparaturleistungen der Apparatemedizin zu vertrauen, wird der mündige Patient der Zukunft seine Eigenverantwortung wahrnehmen. Dann werden auch die Ärzte nicht mehr als weltliche Erlöser von allem Übel verehrt werden. Dieses Buch kann dazu manches beitragen.
R. L.
Bastian, Till: Krankheit auf Rezept? Die populären Irrtümer der Medizin. München: Kindler Verl., 1998.288 S., DM / sFr 39,90 / ÖS 291,-