Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung

Ausgabe: 1996 | 1

Die alten Götter sind gestürzt. Das, was man eine Metaerzählung nennen könnte, eine das ganze Sein überwölbende Idee, an die alle Mitglieder einer Gesellschaft glauben und für die sie leben, ist unserer heutigen Kultur abhandengekommen. Darin sieht der amerikanische Kulturkritiker den Hauptgrund für die Krise der Schulerziehung. Diese brauche einen transzendentalen Sinn. Die "Krise des Narrativen" (Vaclav Havel) müsse überwunden werden durch neue wissenschaftliche Rezepte, neue Ideologien, neue Kontrollsysteme, neue Institutionen. Mit anderen Worten durch "neue Götter", die uns ein elementares Gerechtigkeitsgefühl, die Fähigkeit, Dinge mit den Augen der anderen zu sehen, ein Gefühl der transzendenten Verantwortung, archetypischen Weisheit, guten Geschmack, Mut, Mitleid und Glauben schenken können (Havel). Zur Vermittlung dieser “neuen Götter" sollte nach Ansicht des ehemaligen Grundschullehrers aus Brooklyn nicht zu sehr auf neue Unterrichtsmittel wie den Computer, dessen Gebrauch Postman aber keineswegs generell ablehnt, gesetzt werden. Ein Zuviel an Apparaten behindere nur. Vielmehr bilde nach wie vor der freie Dialog das Herz der Erziehung. Der Professor für Medienökologie an der New York University in Manhattan demaskiert seiner Meinung nach "falsche Götter" wie den Gott der ökonomischen Nützlichkeit, den Gott des Konsums und den Gott der Technologie. Als neue, inspirierende' Erzählung bietet er die Geschichte vom „Raumschiff Erde", also einer Ausrichtung unseres Lebensstils an den Gesetzmäßigkeiten der Ökologie an. Auch das Prinzip der Vielfalt, das unterschiedlichen Ausdrucksformen in Sprache, Religion, Kunst und Gebräuchen Ausdruck verleiht, sei eine machtvolle Erzählung. Postman spricht sich dafür aus, das gängige Fächerrepertoire an unseren Schulen durch neue Fächer teilweise zu ersetzen. Ein solches neues Fach könnte die historische Linguistik sein, weil dadurch die multikulturelle Dimension von Sprache deutlich werde. Die Erschaffung der Welt durch Sprache sollte ins Zentrum der Lehrerausbildung gestellt werden. Denn wir lebten in zwei unterschiedlichen Welten: der Welt der Ereignisse und Dinge und der Welt der Wörter über Ereignisse und Dinge. Damit will Postman ausdrücken, daß wir Menschen ein und dieselbe Welt oft unterschiedlich abstrahieren und definieren, und dann über diese unterschiedlichen Definitionen und nicht über die Wirklichkeit Konflikte entstehen. Ein weiteres neues Fach sollte die Technologieerziehung mit dem Lernziel, soziale und politische Auswirkungen von Technik zu studieren, sein. Nachdrücklich bekennt sich der nach eigener Einschätzung unverbitterte Kritiker amerikanischer Vorurteile, Neigungen und Neurosen zur Idee der Kindheit und damit zu unserer heutigen Form der Schule. "Ich hoffe, daß die Kindheit überleben wird, da wir ohne sie unser Gefühl dafür verlieren, was es heißt, erwachsen zu sein." E.H.

Postman, Neil: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung. Berlin:  Berlin-Verl., 1995. 243S.,