Ist Kassandra verstummt?

Ausgabe: 1987 | 3

Amery sieht in Kassandra die Verkörperung der Unheilsprophetie. Ihr wurde die Gabe der Weissagung mit dem Fluch verliehen, dass niemand glaubte, was sie verkündete, obwohl sie stets die Wahrheit sprach. Beispiele für die Missachtung gegenwärtiger Warner und Propheten gibt es genug. Besorgte Wissenschaftler (Grenzen des Wachstums, Global 2000) beschwören die Bedrohung der Menschheit, der gesamten Biosphäre. Die Annahme, solche Aufklärung würde die Regierenden veranlassen, das Richtige zu tun, erwies und erweist sich als falsch. Die Zeichen sind überdeutlich - Bhopal, Seveso, Harrisburg, Basel, Tschernobyl, - harte Fakten jeweils, die »ln den Bastionen der Macht sowohl wie in der Psyche der Mehrheit« aber allzu wenig bewirkt haben. Vielfältige Mechanismen sind am Werk, sich Kassandra vom Leib zu halten. Amery unterscheidet den Typus des

 

  • Propheten- oder Boten-Mörders in seiner modernen Form der Unterdrückung bzw. Knebelung der Botschaft. Er kennt den
  • Verhöhner Kassandras, den
  • Schlüsselsucher unter der Laterne, dem das Spähen innerhalb der vertrauten vier Quadratmeter das Gefühl gibt, etwas getan zu haben. Er attackiert den
  • »hoffnungslosen Chirurgen«, der das Problem erkennt und als unlösbar diagnostiziert, und schließlich durchschaut er den
  • »faulen Zauber«, wenn nichts wirklich Wirksames und Nützliches geschieht (Katalysator, Bundes-Umweltministerium, internationales Meldesystem bei Atomkatastrophen).

 

Neben diesen Wortführern des status-quo in verschiedenem Gewande gibt es einen zusätzlichen Konsens der Verdrängung. Während der »fromme Sünder« auf Veränderung hofft, ohne zu handeln, gesellt sich neben ihn das »Urvertrauen in den Weltlauf«. Letzteres ist der mächtigste, weil gelassenste Feind Kassandras. Es gibt also viele Gründe, Kassandra nicht zu hören. Und doch sind die Fakten, die sie mitteilt, nicht zu widerrufen. »Was wir wählen können, ist einzig und allein unsere Reaktion auf sie«. Diese »kuriose Freiheit« enthält zumindest drei Optionen, nämlich die Verweigerung der Botschaft, die einsichtige Akzeptanz und schließlich doch auch das Erkennen der Warnung als Aufforderung zur Umkehr. Obwohl es viele Gründe zur Resignation gibt, muss die Handlungsgrundlage immer die Annahme sein, dass die tätige Umkehr möglich ist. Der Autor selbst glaubt, dass sich die unheilverkündenden Zeichen mehren werden und dass wir daraus lernen können. »... es wäre dies eine Barmherzigkeit, die wir nicht verdienen.«

Amery, Carl: Ist Kassandra verstummt? Wie sich Politiker und Bürger die Botschaft der Warner vom Leibe halten. In: Natur. 1987, Nr. 7, S. 47-52