Martin Albrow

Integrity

Ausgabe: 2025 | 3
Integrity

Martin Albrows Werk „Integrity. The Rise of a Distinctive Western Idea and Its Destiny“ unternimmt eine tiefgreifende Analyse der Geschichte und Bedeutung des Begriffs „Integrität“ als einer spezifisch westlichen Idee. Albrow, ein bekannter britischer Soziologe, dessen Arbeiten sich mit Globalisierung und globaler Zivilgesellschaft auseinandersetzen, beleuchtet, wie dieser Begriff viel über die Geschichte des Westens vermittelt. Der Autor spürt die Wurzeln des Wortes im lateinischen „Integritas“ auf. Ursprünglich deutete es auf Dinge hin, die getrennt von anderen und in sich vollständig sind. Doch es entwickelte sich eine weitere Bedeutungsebene, die hohe Standards, insbesondere moralischer Natur, aber auch materieller Art wie Haltbarkeit, implizierte.

Interessanterweise konnte sich Integrität sowohl auf natürliche Objekte als auch auf Menschen und von ihnen geschaffene Dinge beziehen. Ein zentraler Punkt des Buches ist folglich die Verbindung von Materiellem und Spirituellem. Albrow argumentiert, dass zwar alle Kulturen beide Sphären als Realität anerkennen, aber nur bestimmte Sprachen des westlichen Imperialismus ein einziges Wort besaßen, um beide abzudecken. Diese Verknüpfung des Physischen und des Moralischen bildet die Wurzel der Dualität der Bedeutungen von Integrität, die bis heute in allen Sprachen erhalten geblieben ist, die ein vom lateinischen „Integritas“ abgeleitetes Wort haben. Dies hatte laut Albrow langanhaltende Konsequenzen für den öffentlichen Diskurs und wurde zu einem der unterscheidenden Merkmale der westlichen Kultur.

Der Begriff wurde vom Lateinischen in die christliche Sphäre überführt, um hier zur Lebensfrage zu werden. Christliche Integrität stand nicht nur für Ganzheit und Vollständigkeit, sondern auch für Zuverlässigkeit über die Zeit, Vorhersagbarkeit und sichtbare Güte einer Person, die konstant gerecht und ehrlich war. „Integrity applied to all things, and it was God who had created them all. What men did with those things after their creation war a matter between them and Him“ (S. 149).

In weiterer Folge wurde der Begriff in der Renaissance und der Reformation aufgegriffen. Das Ende der monopolartigen Dominanz der Kirche führte auch dazu, dass Integrität als säkuläres Konzept florierte. In Verbindung mit der westlichen Politik des „Empires“ entwickelte sie jedoch eine potente Kombination, die den Imperialismus späterer Jahrhunderte befeuerte das Streben nach Perfektion antrieb. In dieser Zeit der Aufklärung wurde der Inhalt des Begriffs erneut ausgeweitet. Francis Bacons Appell an die Integrität betonte deren Verbindung zum Streben nach Wissen.

Im amerikanischen Leben verlagerte sich der Fokus der Integrität hin zum Gewissen und der Orientierung durch Standards. Das Buch analysiert, wie das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Aspekten sich kontinuierlich verschiebt und die inhärente Rastlosigkeit der Moderne widerspiegelt, die aber gleichzeitig die treibende Energie darstellt, der den Westen an seine heutige Position in der Welt gebracht hat.

Die Idee der Integrität begann auch, die Person selbst zu bestimmen. Das Leben einer Person wurde zu einer Erzählung der Selbstentwicklung, die die „persönliche Integrität“ als die Errungenschaft des authentischen Selbst erreichte. Das Selbst wird somit zu einem fortlaufenden reflexiven Projekt.

Der Autor konstatiert, dass das Konzept der Integrität gegenwärtig in der Integritätskrise unserer Zeit an seine Grenzen kommt. Dies zeige sich in der Akzeptanz von Nicht-Integrität in der Politik: Donald Trump und Boris Johnson werden als prominente Praktiker der neuen Politik des Integritätsvakuums genannt. „They appear to benefit from a general acknowledgement that we cannot expect those in power to follow rules. A general exemption for them from standards and principles that govern ‚ordinary‘ people in everyday life seems to be a regular expectation“ (S. 150f.).

Zusammenfassend argumentiert Albrow, dass die Idee der Integrität eine charakteristische Entwicklung im Westen durchlaufen hat, von ihren lateinischen Wurzeln, über ihre Prägung durch christliche Werte und ihre Rolle im Kontext von Aufklärung und Imperialismus bis hin zu ihrer Bedeutung für das individuelle Selbstverständnis und den aktuellen Herausforderungen in einer Zeit der politischen Integritätskrise. Das Werk beleuchtet die vielschichtige Natur dieses Konzepts und seine tiefgreifenden Auswirkungen auf die westliche Kultur und den öffentlichen Diskurs.