Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat

Ausgabe: 1997 | 4

Unterliegt das System der europäischen Wohlfahrtstaaten endgültig den Gesetzmäßigkeiten neoliberaler und globalisierter Politik? Bleibt demnach die Absicherung sozialer Standards allein den Nationalstaaten aufgebürdet die so zunehmend unter den Sparzwang der Budgetsanierung, zu Lasten vor allem der politisch Machtlosen geraten? Könnten die Gewerkschaften jene international vernetzte Gegenmacht darstellen, welche die mühsam erkämpften sozialen Rechte garantieren und sie gegen neue/alte Bedrohungen - keineswegs nur materielle Einschnitte - verteidigen? Die sich vertiefende Kluft zwischen Gewerkschaften, die dem Versorgungsdenken aus vergangenen Wohlstandszeiten mit Sozial- und Kultursponsoring für ihre Mitglieder entgegenkommen, und den um das Recht auf Arbeit kämpfenden wird auch in dem schmalen Band deutlich. Er faßt Beiträge einer Begegnung zwischen französischen und deutschen Gewerkschaftern zusammen, bei der die Nachwirkungen der Streiks und Proteste in Paris (1994 und 1995), im Ruhrgebiet und in weiteren Zentren der Arbeitslosigkeit analysiert wurden. Tenor: Der Vereinzelung des verwöhnten Wohlstandsbürgers mit seinen Existenzängsten muß mit einer mühsam entwickelten Solidargemeinschaft begegnet werden. Diese soll auch vereint die Kraft zu sozialem Protest und zivilem Ungehorsam aufbringen, wie sie Helmut Schauer und Claude Debon in ihren Beiträgen beschreiben. Gegenüber den Folgen der Währungsunion der EU mit ihrem Sozialabbau haben die Referenten einige Mühe, glaubhaft für ein geeintes Europa zu argumentieren. Zu sehr ist der beschworene sozialistische Internationalismus durch die Politrhetorik linientreuer marxistischer Intellektueller in Mißkredit geraten. Pierre Bourdieu illustriert dies in einem Interview am beschämenden Schweigen vieler - vor allem deutscher - Intellektueller. Den vielfältigen Formen der Beschäftigungslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung wollen die Gewerkschafter mit dem klassischen Mittel der Arbeitszeitverkürzung - auf 35 bzw. 30 Wochenstunden - beikommen. Ob dies ausreicht. die bald 20 Millionen Arbeitslosen in der EU und nicht zu vergessen jene außerhalb der EU - aus der Schattenwirtschaft herauszuholen, muß bezweifelt werden. Darüber hinaus müßte ein Grundeinkommen für Erwerbslose mit einer Mindestabsicherung auch die Freiheit garantieren, sich ohne Existenzangst in sozialen und politischen Initiativen zu engagieren. Solche Ansätze sind jedoch in Gewerkschaften noch lange nicht mehrheitsfähig. M. Rei.

Perspektiven des Protests. Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat. Bourdieu, Pierre ...(Mitarb). Hamburg: VSA-Verl., 1997. 129 S.