Hitler, Vergangenheitsbewältigung und das 21. Jahrhundert

Ausgabe: 1999 | 1

„Müssen wir Unmenschen werden, um die Menschheit zu retten?” fragt Carl Amery, wohl einer der scharfsichtigsten und kritischsten Denker deutscher Sprache, gemeinsam mit Hans Jonas zu Ende der vorliegenden Provokation. Ist das „Phänomen Hitler nicht vielfach und mit guten Gründen als singuläres, dämonisches Ereignis, als Katastrophe gleichsam außerhalb der Geschichte, da außerhalb jeder Erfahrung stehend, beschrieben worden? Ist das permanente Projekt „ Vergangenheitsbewältigung ” nicht Garant genug, um die Wiederholung des Ungeheuerlichen ein für allemal auszuschließen?

Amery mißtraut dieser Ansicht – und er tut dies auf überzeugende Weise, wenngleich er es sich selbst und seinen Lesern dabei keineswegs leicht macht.

Schicht für Schicht der in „Mein Kampf” entwickelten dumpf-polemischen Metaphysik einer von ”der großen Königin Natur” diktierten Herrschaftsideololgie bloßlegend, macht Amery die im 19. Jahrhundert weitverzweigten Wurzeln des (allenfalls rudimentär eigenständigen) Denkens und (doch so rigiden Handelns Hitlers deutlich, und stellt zugleich dar, weshalb die Ingredienzen des Naziregimes – v. a. Sozialdarwinismus, Chauvinismus, Imperialismus, Antijudaismus, Rassismus und Eugenik – gerade in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen und zu einem Zweck vereinnahmt werden konnten: der „barbarische(n) Quadratur des Kreises: ein hohes Herrenvolk mit allen Privilegien der Moderne, das in jahrhundertelangen Fristen für die Nachhaltigkeit des Lebens und der kulturellen Errungenschaften sorgt, sorgen kann...” (S. 99).

Mit dem Ende des „Dritten Reichs” setzt, so Amery, das ”Zeitalter des Großen Moratoriums” an, die von Thomas Jefferson (aber auch vom Kommunismus) versprochene „Freiheit von Furcht und Not” (vgl. S. 132 ff.). Blindwütig und aller mahnenden Einwände zum Trotz – so als wären die Grenzen des Wachstums nicht allgegenwärtig und die Folgen eines fusionswütigen Neokapitalismus nicht offenkundig - werde dieses Projekt vorangetrieben. Von vielen bereits eingefordert, und beinahe zwingend absehbar, sei „Planetares Management” indes nichts anderes als die „Globalisierung der Hitlerformel”. „Erste Bedingung für ihre Wiederanwendung”, so Amery, „ist eine entsprechende Krisensituation, die sowohl materielle Not wie das Erlebnis der existentiellen Orientierungslosigkeit umfaßt” (S. 163).

Und wäre dem Autor denn ernsthaft zu widersprechen, wenn er meint, daß wir diesen Status schon längst erreicht haben, da sich „die Welt der Ökonomie und der Finanzen (...) von jeder biosphärischen, sondern auch (...) humanitären Verantwortung gelöst [hat] und verzückt um ihre Renditensonne kreist” (S. 167). Freilich: verfeinerte Methoden der Überwachung und der Selektion bis hin zu pränataler Diagnostik und gen-strategischer Planung (lebens)werten Lebens lassen schon heute die Mordmaschinerie Hitlers alt aussehen und werden tagtäglich weiter entwickelt. Soll dagegen die humanistische Tradition und das ihr verpflichtete Postulat der Allgemeinen Menschenrechte Bestand haben, bedarf es, so Amery, nichts weniger als eines „neuen Kulturentwurfs, der auf einer gänzlich anderen Formel beruhen muß. (...) Was wir entwickeln müssen, ist eine neue, durch Wissen und Demut geläuterte Solidarität mit der Biosphäre, der Lebenswelt. Der Darwinismus irgendwelcher Neokannibalen kann in ihr ebensowenig einen Platz finden wie die naive Doktrin von der unsichtbaren Hand oder die vermessene Hoffnung auf eine eschatologische Lösung von außen und oben (wie sie auch noch in genug säkularisierten Seelen herumspukt). Wenn es überhaupt noch darum geht, eine solche Formel zu finden, dann lautet sie: Der Mensch kann die Krone der Schöpfung bleiben – wenn er begreift, daß er sie nicht ist“ (S. 191).

Nicht zuletzt auf die „in den Heimatgesellschaften des Kapitalismus” von Amery ausgemachten „Legionen der Linksliberalen” wird es ankommen, diesen neuen Kulturentwurf voranzutreiben und wider die Macht des Faktischen zu entwickeln. Die Hoffnung, daß dieses Projekt gelingen möge, mag zwar klein sein, vergebens ist sie nicht. W. Sp.

Amery, Carl: Hitler als Vorläufer. Auschwitz der Beginn des 21. Jahrhunderts? München: Luchterhand, 1998. 191 S., DM 29,80 / sFr 39,40 / öS 218,-