Günther Grass und Regine Hildebrandt im Gespräch

Ausgabe: 1993 | 4

Ein "Wessi" und eine "Ossi" im Gespräch. Beide waren und sind noch immer Unangepaßte in ihrer Gesellschaft. Es wird kein Streitgespräch geführt, obwohl die beiden beileibe nicht einer Meinung sind, sondern ein Dialog, in dem es darum geht, dem Gegenüber zuzuhören, um einander näher zu kommen. Man merkt, Günter Grass, der Dichter, ist kein Politiker, er ist der, der Mißstände schonungslos aufzeigt radikale Veränderung fordert, sei es in Sachen Asylpolitik, sei es in Sachen Wiedervereinigung. Regine Hildebrandt hingegen hat gelernt, hat lernen müssen, sich mit der "Realpolitik" zu arrangieren. Vieles läuft anders, als sie und ihre ehemaligen Mitstreiterinnen es sich gewünscht haben. Doch an verantwortlicher Stelle kann man nur das Machbare fordern, versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Grass kritisiert die deutsche Asylpolitik scharf, es dürften keine neuen Mauern gegen den Osten gebaut werden. Doch Hildebrandt weiß, daß erfolgreiche Asylpolitik die Akzeptanz der Bevölkerung braucht, und diese Akzeptanz ist gerade in der ehemaligen DDR, wo dieses Problem ja völlig neu ist, sehr gering, vor allem sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen gegenüber. Einig sind sich die beiden darin, daß man dieser Flucht vor desolaten wirtschaftlichen Zuständen nur durch Hilfe vor Ort Herr werden kann. Beide sehen die Schwächen des Einigungsvertrages. Doch während Grass den Vertrag völlig neu verhandelt sehen will, spricht Hildebrandt von "Schadensbegrenzung", die sie als Politikerin nur mit den nötigen Mehrheiten erreichen kann. Und beide sehen die Demokratie in Gefahr, denn auch der in Zweifelsfällen angerufene Verfassungsgerichtshof ist keineswegs   unparteiisch, wie sich im Urteil bezüglich des § 218 (des „Abtreibunqsparagraphen") zeigt. Dieses Urteil stand zum Zeitpunkt des Gesprächs zwar noch aus, konnte aber die Gesprächspartner, wie man liest, nicht mehr überraschen. J. L.

Grass, Günter; Hildebrandt, Regine: Schaden begrenzen oder auf die Füße treten: ein Gespräch. Berlin: Verl. Volk & Welt, 1993. 72 S., DM 12,- / sFr 10,20/ öS 93,60