Tobias G. Eule, Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg, Anna Wyss

Hinter der Grenze, vor dem Gesetz

Ausgabe: 2021 | 1
Hinter der Grenze, vor dem Gesetz

Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes hält, was der Titel verspricht: Vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Bereich der Soziologie haben sich in einer groß angelegten Feldstudie in insgesamt acht europäischen Staaten dem Asylsystem angenommen. Wesentlicher Teil ihrer Conclusio liegt darin, dass wir uns von dem Ideal der „Herrschaft des Rechts“ (S. 106) verabschieden sollten. Dass „man sich das Recht besser als eine Art Spielfeld vorstellen sollte, auf dem zahlreiche Akteur*innen ihre Vorstellungen von Recht, ihre Haltung dazu im Kontext von individuellen Rechten, Gerechtigkeit und Ermessen vorbringen und aushandeln.“ (S. 107)

Recht gilt nicht für alle gleichermaßen

Anhand von Interviews mit unterschiedlichen Beteiligten, vom Grenzbeamten über die Juristin bis hin zur Geflüchteten, wird eine Problem-stellung immer wieder ersichtlich: Recht gilt nicht für alle gleichermaßen und weicht in der Praxis allzu häufig von politisch intendierten Maßnahmen ab. Aus der Diskrepanz zwischen den Vorhaben der Politik und dem praktischen Umgang mit dem Gesetz entsteht das eigentliche Forschungsinteresse der Autorinnen und Autoren, die sogenannte Implementierungslücke. Um die Bedingungen dieser umfassend nachzeichnen zu können, wird der Prozess der Aushandlung um den Aufenthaltsstatus auf Grundlage von Notizen und protokollierten Gesprächen der Forscherinnen und Forscher aus immer neuen Blickwinkeln betrachtet und wissenschaftlich analysiert. Das Buch bietet damit neben aufschlussreichen und häufig auch zermürbenden Erkenntnissen Einblick in einen für Nicht-Betroffene üblicherweise unzugänglichen Bereich.

Aus der Perspektive von Asylwerbenden werden Faktoren wie das Wissen um Rechtsgrundlagen, informelle Informationen und Gerüchte sowie die Rolle der Zeit behandelt. All diese Aspekte können sich zum Vorteil aber auch zum bestimmenden Nachteil der Menschen auswirken. Demgegenüber stehen Bürokratinnen und Bürokraten, die zwischen politischer Rhetorik sowie aufgrund neuer Verordnungen den Überblick über aktuell gültige Rechtsgrundlagen verloren haben. Anstatt auf der Basis geltender Vorschriften zu entscheiden, verlassen sie sich auf ihr Bauchgefühl sowie den eigenen Wertekompass und bilden so aus dem vermeintlich allgemeingültigen Recht eine Ansammlung undurchsichtiger Ermessensentscheidungen. Offen bleibt die Frage, ob das desorganisierte Innenleben der Bürokratie der Herrschaft des Rechts in die Hände spielt, oder ob gerade dieses Chaos Gestaltungslücken für Betroffene offen hält und bestehende Machtasymmetrien auszugleichen vermag.