Spätestens seit Yuval Noah Hararis „Sapiens“ sind Begriffe wie Globalgeschichte, Weltgeschichte oder gar Big History keine Orchideen mehr, sondern vielmehr im wissenschaftlichen Alltagsdiskurs und darüber hinaus angekommen. Dabei geht es immer ausgeprägter um eine Vielzahl von Begleiterscheinungen, Parallelphänomenen und politischen, sozialen und philosophischen Konsequenzen: Sind Klimawandel, Künstliche Intelligenz oder atomare Bedrohungen innerhalb der engen Grenzen nationalstaatlicher Paradigmen verhandel- und lösbar? Gelten die universellen Menschenrechte wirklich universell? Übernimmt der globale Süden lediglich Theoriekonzepte aus dem Westen oder findet er eine eigene Stimme?
All diese Fragen stellte und stellt sich die Kommunistische Partei (KP) der Volksrepublik China seit deren Gründung im Jahr 1949. Grundlegend lässt sich die Motivation für diese Überlegungen in mehreren Widersprüchen finden: Wie vereinbart die KP beispielsweise die inhärent global gültigen ideologischen und ökonomischen Versprechen des Marxismus mit denen einer Suche nach genuin chinesisch gelesenen Eigenheiten von Herrschaft, sozialem Zusammenleben und wirtschaftlichen Bedingungen? Wie kann sich die KP aus dem „Jahrhundert der Schande“ von westlicher und japanischer Okkupation loslösen, ohne im gleichen Zug ihr Heil in neuen westlichen Theorien und Praktiken zu finden? Diese Diskussionen dauern unter dem Diktum des „Sozialismus chinesischer Prägung“ von Mao Zedong über Deng Xiaoping, Hu Jintao bis hin zu Xi Jinping bis in die heutige Zeit an und bestimmen – in jeweils diskutablen Richtungen – auch den geisteswissenschaftlichen Diskurs an Universitäten.
Über das komplexe Wechselspiel von westlichen und chinesischen Perspektiven
Zeitgleich mit der in der hier vorliegenden Ausgabe besprochenen Sammlung von Daniel Lesse und Shi Ming legen die Erlanger Sinologen Marc Andre Matten und Egas Moniz Bandeira einen Band mit neun Debattenbeiträgen chinesischer Historiker vor, die sich mit dem komplexen Wechselspiel von westlichen und chinesischen Theorieansätzen, Narrativen und Praktiken auseinandersetzen. Wie verortet sich die Geschichte Chinas innerhalb der globalgeschichtlichen Forschung? Welche Dilemmata ergeben sich aus eurozentristischen Paradigmen vor dem Hintergrund von Imperialismus und Nationalgeschichtsschreibung? Kann es in der Zukunft gar eine „Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten“ (S. 245–284) geben?
In diese im deutschsprachigen Diskurs noch recht unbekannten Thematiken führen die beiden Autoren mit bewundernswerter Leichtigkeit ein, skizzieren die politischen Rahmenbedingungen der Diskussion, die Zielsetzungen des Buches, und die chinesischsprachigen historiographischen Debatten, auf deren Schultern der vorliegende Band verstanden werden kann. Angenehm die stets hilfreiche Sekundärliteratur zur weiteren Vertiefung. Gerne hätte man die durchgehende Benutzung von Begriffen in Pinyin samt Diakritika oder gar in chinesischen Zeichen wie im erwähnten Parallelband gesehen. Das benutze Format ohne Diakritika hilft so wohl weder dem des chinesischen Mächtigen, noch erlaubt es Sinolog:innen ein schnelles Erkennen der korrekten Begrifflichkeit.
Ein immens wichtiger Band
Wer neben der Einführung einen zweiten niedrigschwelligen Zugang zu diesem immens wichtigen Band sucht, dem sei der kurze Beitrag des an der Fudan-Universität tätigen Historikers Ge Zhaoguang empfohlen (S. 121–132). Von betont autobiographischer Warte beleuchtet er aus chinesischer Perspektive das zentrale Konfliktfeld zwischen globaler und nationaler Geschichtsschreibung vor dem Hintergrund des „fluiden Charakters des chinesischen Nationsbegriffs“ (S. 132).