Wo und wie sollen wir beginnen, über die chinesisch-deutschen Beziehungen im Jahr 2024 nachzudenken? Zwischen Kanzlerbesuchen, Spionageskandalen und globaler Geopolitik bietet sich das Offensichtliche an: das Diskursphänomen der deutschen Automobilindustrie. Hier lassen sich wie durch ein Prisma alle Drohungen und Hoffnungen, alle Begierden und Ängste eng und breit beobachten, fassen und auswerten. War das chinesische Festland über lange Zeit ein stabiler Absatzmarkt für die großen deutschen Automobilmarken, ändern sich nun die Bedingungen angesichts der Entwicklungen im Bereich E-Auto. Dazu kommt anhaltende Kritik an den Produktionsstätten von VW in Xinjiang. Dennoch scheint es für die Branchenriesen unmöglich, ihre Geschäftsbeziehungen auf breiter Ebene in China herunterzufahren. Die Investitionsausgaben erreichen Höchststände. Als grundlegende Orientierung scheint hier ein Blick in die Geschichte dieser Entwicklungen ratsam. Wie und wann kamen Volkswagen und China zusammen? Warum war (und ist) Volkswagen in China so erfolgreich? Wer waren die zentralen Akteur:innen? Welchen Veränderungen waren diese Beziehungen unterworfen? Und wie lässt sich vor diesen Hintergründen die Zukunft aktiv gestalten?
Als motivierende Einführung in diese Thematik lohnt ein Blick in das vorliegende Bändchen, das sowohl vom Feuilleton (Deutscher Wirtschaftsbuchpreis) als auch vom Publikum (Spiegel Bestseller) viel beachtet wurde. Hier bietet der Wissenschaftsjournalist Felix Lee eine ausnehmend gelungene Mischung aus Wirtschafts- und Familiengeschichte. Felix Lees Vater, Wenpo Lee, floh während des chinesischen Bürgerkriegs zunächst von Nanjing nach Taiwan und wanderte schließlich nach Deutschland aus. Dort heuerte er nach einem Studium der Ingenieurswissenschaften an der RWTH Aachen bei Volkswagen in Wolfsburg als Ingenieur an, wo er ab den späten 70er Jahren als Leiter einer Forschungsabteilung zunächst zum initiativen Bindeglied und letztlich zu einem der zentralen Akteure chinesisch-deutscher Wirtschaftsbeziehungen wurde.
Eine spannende Lebensgeschichte
In neun knappen Kapiteln fasst Lee die spannende Geschichte seines Vaters auf derart kurzweilige und lesbare Art zusammen, dass man das Buch gerade zu Beginn kaum mehr aus der Hand legen mag. In der ersten Hälfte berichtet Lee über die abenteuerliche Flucht seines Vaters aus dem kommunistischen China auf das von der republikanischen Guomindang regierte Taiwan und die darauffolgende beschwerliche Zeit in der Hauptstadt Taipeh. Dort arbeitete Lee zunächst in einem Fahrradladen, ehe er von einem Lehrer:innenpaar aufgenommen wurde und so seinen Schulabschluss machen konnte. Nach einem kurzen Bericht über die beschwerliche Überfahrt nach Europa bietet der zweite Teil schließlich die Zeit Wenpo Lees in Deutschland und besonders spannend die fluktuierenden aber letztlich ökonomisch höchst erfolgreichen Jahre der Kooperation zwischen der kommunistischen Partei und Volkswagen. Immer wieder spannend sind die kontrastiven Erfahrungen im bundesrepublikanischen Deutschland und in der sich rasant entwickelnden Volksrepublik China; gelungen und bereichernd die Auswahl der Bilder aus dem Privatbestand der Familie Lee. Das Bändchen endet mit einer kritischen Bestandsaufnahme der derzeitigen Verhältnisse. In leider sehr kurzen Absätzen werden die bekannten Diskursphänomene (Xinjiang, Taiwan, Wandel durch Handel?) zusammengefasst und kommentiert. Hier kratzt Lee nur an der bekannten Oberfläche, man hätte sich etwas mehr Tiefe gewünscht.
Ein Text, der zum Nachdenken anregt
Neben Reflexionen über die wirtschaftlichen und letztlich auch politischen Verflechtungen der beiden Länder gibt Felix Lee Gelegenheit, über das eigene Verhältnis zur Volksrepublik nachzudenken. Wo und wie kann trotz persönlicher und emotionaler Involviertheit Kritik geübt werden? Wie verlaufen die Grenzen zwischen familiären und freundschaftlichen Verbindungen auf der einen und ökonomischen und politischen Interessen auf der anderen Seite? Über all dies regt dieser Text zum Nachdenken an. Nicht nur, aber auch deshalb, wird er wohl rasch zu einem modernen Klassiker des chinesisch-deutschen Wirtschaftsjournalismus aufsteigen. Ein Buch, das nicht nur Automobil- oder Chinabegeisterte unbedingt lesen müssen.