Energieversorgung im ehemaligen Ostblock

Ausgabe: 1994 | 1

Insgesamt ist die Geschichte der Sowjetunion und ihres Imperiums in den letzten zwanzig Jahren auch eine Geschichte der Energie, schreibt Michael Stürmer in seinem Beitrag über die politische Dimension der Energieprobleme Osteuropas. Und in der Tat: Dem letzten großen Abkassieren im Gefolge der OPEC-Preiserhöhung 1973 folgte nach dem Ölpreisverfall zur Mitte der achtziger Jahre der Niedergang der Energiegewinnungs- und Verteilungsstrukturen zeitgleich mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums. Die Probleme auf dem Energiesektor im "ehemaligen Ostblock" - so der Buchuntertitel - werden anschaulich dargestellt: Die enormen räumlichen Dimensionen und die damit verbundenen Probleme (hohes Investitionserfordernis, schwierige Erhaltung) kann der Leser erahnen, wenn er erfährt, dass in der ehemaligen Sowjetunion über 220 000 Kilometer Stromleitungen mit 220 oder mehr Kilovolt Spannung existieren. Interessant in ihrer Gegensätzlichkeit sind zwei Beiträge von Forschern der Akademie der Wissenschaften in Moskau: Der stellvertretende Direktor des Instituts für nukleare Sicherheit hält ein "Jetzt erst-recht"-Plädoyer für die Atomenergie, wobei er wohl nicht zu Unrecht in der Integration Russlands in das Weltwirtschaftssystem ein beschleunigendes Element für die Entwicklung der russischen Atomwirtschaft sieht. Ein leitender Forscher der Akademie-Kommission zur Erforschung der natürlichen Ressourcen hingegen zeigt, dass der Zerfall des russischen Energiesystems durch Einsparungsmaßnahmen grundsätzlich lösbar ist. Selbst die offiziellen Statistiken weisen enorme Verluste bei Gewinnung, Transport und Lagerung von Energie(trägern) aus, dazu kommen Einsparpotentiale durch eine Anhebung des Wirkungsgrades von Großfeuerungsanlagen auf westeuropäisches Niveau.

Der Sammelband enthält elf kurze Beiträge, die im Juni 1992 bei einem Symposium der Karl-Heinz Beckurts-Stiftung präsentiert wurden. Von den vier Aufsätzen zur allgemeinen wirtschaftlichen, politischen und soziologischen Dimension des Transformationsprozesses ist die soziologische Analyse von Leonid Jonin hervorzuheben. Eine erfolgreiche Umgestaltung ist nur möglich, wenn es gelingt, dass die aus Altkommunisten und unteren Schichten der Inteilligenz bestehende neue Elite nicht in die alte kommunistische Identität zurückfällt, sich aber auch vom radikalen Demokratismus und einem primitiv verstandenen marktwirtschaftlichen Liberalismus befreien kann.

WSch.

Energieversorgung nach der Planwirtschaft. Entwicklungen im ehemaligen Ostblock. Hrsg. v. Robert Gerwin.

Stuttgart: S. Hirzel (u.e.), 1993. 135 5., DM 32,-/sFr 29,50/ÖS 250