2014 hatte das Europäische Parlament beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie über die Sicherheit der Europäischen Energieversorgung in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Die Lage sei gegenüber der Erdgaskrise 2009 zwar besser geworden, aber nach wir vor instabil. Die Versorgung über die ukrainische Pipeline Nord Stream 1 sei sicher, ein möglicher Stopp der Gaslieferungen durch Russland aber eine große Gefahr – die durch den Verkauf zahlreicher Gasspeicher an Russland verschärft werde. Die Verdopplung der Kapazitäten durch Nord Stream 2 sei aber nicht notwendig und sinnvoll, so die Studie. Der Ausgang ist bekannt. Der Bau der neuen Pipeline wurde insbesondere auf Betreiben Deutschlands trotz Bedenken vieler EU-Staaten vorangetrieben. Eingetreten ist das, wovor die DIW-Expert:innen warnten: das Zurückdrehen des Gashahns durch Putin im Zuge der militärischen Invasion in der Ukraine.
Energieembargo als vertane Chance
Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt des DIW, schildert dies in ihrem neuen Buch „Schockwellen“, das im Kontext des Krieges gegen die Ukraine entstanden ist. Die Energieökonomin beschreibt detailliert die Ereignisse ab dem 24. Februar 2022, als russische Truppen in der Ukraine einmarschierten, sie skizziert aber auch die Politik in den Jahren davor, die zur Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland geführt hat. Kemfert plädiert(e) nach der Invasion für ein totales Energieembargo gegenüber Putins Russland, was bekanntlich nicht umgesetzt wurde. 12 Mrd. Euro flossen allein in den 100 Tagen nach Kriegsbeginn aus Deutschland für Energielieferungen an Russland (vgl. S. 241). Die Energieökonomin kritisiert aber auch die Prolongierung der Fossilabhängigkeit durch neue LNG-Terminals. Kemfert sieht sich bestätigt in den Versäumnissen insbesondere der Großen Koalition unter Angela Merkel mit Sigmar Gabriel bzw. Olaf Scholz, die Energiewende nicht stärker vorangetrieben zu haben. Und sie zeigt auf, wie Energiepolitik mit Machtpolitik und Lobbyismus verbunden ist. Dies in einer geopolitischen Situation, in der über 50 Prozent der wirtschaftlichen Einnahmen einer Atommacht aus Energielieferungen stammen (vgl. S. 111).
Kemfert weiß viel und recherchiert gut. Sie zitiert die Studien ihres Instituts und „Gegenstudien“ anderer Institute, die von der Fossilindustrie in Auftrag gegeben wurden. Am eindrucksvollsten ist ihr chronikales Verständnis: Die Geschichte der deutschen Verstrickung in die russische Energieabhängigkeit sowie das – aus ihrer Sicht – viel zu lange Wegsehen gegenüber dem imperialen Machtgehabe Putins wird minutiös nachgezeichnet. Man erfährt etwa, dass die Krim nicht nur wegen des Zugangs zum Schwarzen Meer, sondern auch aufgrund der riesigen Gasvorkommen in diesem von Bedeutung sei. Zahlreiche europäische Energieunternehmen hatten bereits Lizenzrechte für Bohrungen angebahnt, als Putin diesen mit der Besetzung der Halbinsel einen Strich durch die Rechnung machte.
Abdrehen der Energiewende
Kemfert nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn sie Versäumnisse der Politik in Bezug auf die Gasabhängigkeit von Russland, die Macht-Verstrickungen mit der Fossillobby sowie das Abdrehen der von Hermann Scheer, dem bedeutendsten Solarpolitiker Deutschlands, in die Wege geleiteten Energiewende anprangert. Außenminister (und später Bundespräsident) Frank-Walter Steinmeier sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert Kemfert insbesondere aufgrund ihrer Haltung des „Brückenbauens“ gegenüber Putin, was sich als großer politischer Irrtum herausstellen sollte.
Im Zentrum ihrer Kritik in Bezug auf die Energiewende stehen der ehemalige CDU-Umweltminister Peter Altmeier, der 2012 mit der „Ökostrompreisbremse“ den Einbruch der Wind- und Solarenergie in Deutschland eingeläutet („Altmeier-Knick“), sowie Sigmar Gabriel, als Wirtschaftsminister Hauptpromotor von Nordstream 2, der mit seiner „Ökostromreform“ den Motor der Energiewende abgewürgt habe („Sigmar-Senke“). Neue Ausschreibungs- und schleppende Genehmigungsverfahren hätten zum gänzlichen Einbruch der Erneuerbare Energie-Branche in Deutschland geführt: „Zwischen 2016 und 2020 gingen in der Windkraftbranche circa 60.000 Jobs verloren, 26.000 davon allein 2017“ (S. 258). Als Ursache für diese Wende nennt Kemfert das Setzen auf das vermeintlich billige Gas aus Russland sowie das Lobbying aus Industriekreisen. Viele Politiker:innen seien mit der Fossilindustrie verbandelt (gewesen). Das Täuschungswort vom Gas als „Brückentechnologie“ habe suggeriert, dass für die Energiewende noch immer etwas fehle: „Indem man von Brücken spricht, rückt man sofort breite Lücken, tiefe Abgründe oder gefährliche Flüsse vor das innere Auge“ (S. 255).
Ein wichtiges, aufklärendes Buch, das zu Recht von vielen Expert:innen gelobt wird. Wenn, dann sind es Texte wie dieser, die etwas bewegen und demokratische Öffentlichkeit herstellen.