
Die Industriegesellschaft ist nicht passé. Sie wirkt fort. In Strukturen, Mentalitäten, Organisationen, in der Kultur. Das ist eine Kernaussage des unlängst erschienenen Essays von Wolf Lotter. In seinem neuen Buch spürt er nun der Frage nach, was genau den Unterschied ausmacht zwischen der Industrie- und der Wissensgesellschaft. Und er kommt zu einer überraschenden These, die das Gewohnte, unser Verständnis von normal auf den Kopf stellt.
Kopien als Entwertung des Originals
Der Reihe nach: Die Industrie ist Meisterin in der Reproduktion des Immergleichen, der Serienfertigung von identischen Kopien. Die Industrialisierung sei der Eintritt in „das Zeitalter der Masse und des Nachmachens“ (S. 54). „Die Kopie ist zur Normalität geworden“, schreibt Lotter (S. 139). Und „was an Unterschiedlichkeit, Differenz fehlt, sollen Werbung und Marketing richten“ (S. 139). Diese Massenfertigung von Kopien geht einher mit einer Entwertung des Originals: „Nie war der Respekt vor dem Original und seinen Urhebern so gering wie heute“ (S. 9). Was wir gerade erleben, sei „das letzte Gefecht der Kopiergesellschaft“ (S. 10). Die Wissensgesellschaft hingegen „lebt vom Echten vom Einzigartigen“ (ebd.). Das ist der Unterschied. „Das Echte braucht echte Aufmerksamkeit im Sinne von Zuwendung und Ernsthaftigkeit“ (S. 15). Denn das Echte zu wollen, das bedeutet: „Wir müssen herausfinden, wer wir wirklich sind, was wir wirklich können, was wir wirklich brauchen.“ (S. 15) Und das können nur Menschen, das kann keine KI. Dieses Echte und Einzigartige folgt keinem Vorbild, unterliegt keinem Standard, es verlangt echte Arbeit und nachdrückliches Bemühen. Das ist der Kernpunkt. „Das Echte ist unsere Zukunft, das Original unser Geschäft. Und beides zusammen macht aus, was wir Transformation nennen“ (S. 65).
Daraus resultiert ein anderes Verständnis von Arbeit. Arbeit und Entwicklung der Person fallen zusammen, die falsche Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit findet ein Ende. Das Bild der Arbeit, das Lotter zeichnet, ist mit dem Begriff Wissensarbeit nur unzureichend beschrieben. Es findet sein Vorbild eher im Handwerk. In der Meisterschaft, sein Know-how mit Verstand und Talent „zu neuen, schöpferischen, innovativen Dingen und Sachverhalten zu führen“ (S. 180). Lotter stellt unser Verständnis von der Arbeit vom Kopf auf die Füße. Das ist radikal und stellt unser von industriegesellschaftlicher Normalität geprägtes Verständnis von Arbeit infrage. „Was die Transformation heute braucht, ist weniger die Vorstellung, dass wir in eine völlig neue Welt gehen, sondern im Grunde die geistige Ausnahmesituation der vergangenen zweihundert Jahre überwinden“ (S. 189).
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Unzulänglichkeit
Das Buch endet – wunderschön – mit dem Musiker und Sänger Nick Cave, der sehr klar umschrieben hat, was menschliche Kreativität von Produkten künstlicher Intelligenz unterscheidet: Es ist die Kühnheit (und das Bemühen), in der Auseinandersetzung mit der eigenen Unzulänglichkeit über seine Grenzen hinauszugehen. Hierin liegt „der künstlerische Akt, der das Herz des Zuhörers berührt“ (S. 215) so Cave, der seinen vielfältigen künstlerischen Aktivitäten jüngst eine weitere hinzugefügt hat, wie das „Süddeutsche Zeitung Magazin“ kürzlich in einer Titelgeschichte berichtet hat: Er fertigt Keramikfiguren, die er selbst brennt und bemalt. Echte Handarbeit.