Die virtuelle Demokratie

Ausgabe: 1997 | 2

Das Virtuelle boomt und hat tiefgreifende Veränderungen auch auf politischer Ebene zur Folge. Der Medienmacher und Mitbegründer des französischen Pay-TV "Canal plus", Léo Scheer, beschäftigt sich mit der Frage, welcher Platz dem Politischen und der Demokratie vorbehalten sein wird, wenn sich im Multimedia-Zeitalter das Audiovisuelle (Fernsehen), das Internet (Computer) und das Telefon vereinen. Durch die erwartete Steigerung der Ausdrucksfähigkeit in der zukünftigen Gesellschaft wird, so eine seiner Thesen, das "Sagen" wichtiger als das "Gesagte". Der Autor entgegnet zunächst dem allzu großen Optimismus der amerikanischen Vorstellungen von der Gleichheit beim Zugriff auf das Wissen im globalen Netz, denn nur wenige Gruppen seien in der Lage, sich daran zu beteiligen. Der Weg in die "technologische Verzauberung der Welt" führt seiner Ansicht nach unweigerlich zum Ausstieg aus der historischen Gesellschaft, die Moderne kann also "auf das Politische, wie wir es kennen, verzichten, es interessiert sie nur am Rande". Dies bestätigt auch der Blick des Autors auf die gegenwärtige Wirkungslosigkeit des Nationalstaates angesichts immer größer werdender Probleme. "Folglich zählt die Politik heutzutage zu jenen veralteten Bereichen, über die der Fernsehzuschauer einfach ,hinwegzappt'." Die tiefgreifenden Änderungen gehen indes durch den "frivolen Kreislauf der Zeichen" in der Datenautobahn weiter. "Die Gesellschaft wird sich hinfort mit einer intelligenten Infrastruktur ausstatten, die einem Nervensystem von ungeheuren Ausmaßen vergleichbar ist und alle nur denkbaren individuellen Anschlüsse ermöglicht." Das Ganze funktioniert nur dann, wenn jeder "Terminal" auch zum Sender wird. Die neue Demokratie ist nicht mehr durch Abstimmung, Wahl oder Macht gekennzeichnet, sondern dadurch, daß ”jeder seine Erzählungen äußert, deren Überbringer er selbst ist, ohne daß es dabei einer Kanalisierung oder Umgestaltung der auf diese Weise in Umlauf gebrachten Zeichen bedürfte". Die neue Sprache ist das Audiovisuelle und jeder wird versuchen, sich dieser Sprache immer besser zu bedienen. In der ortlosen Netzgesellschaft der Zukunft wird der Weg geebnet für ein künstliches Paradies ohne Risiken. Wie sich die Demokratie der Zukunft nun wirklich entwickeln wird, darüber ist sich der Autor selbst noch nicht klar. Es bleibt zu hoffen, daß der Weg nicht in einer "Demokratie der Fernbedienung" mündet. A. A.

Scheer; Léo: Die virtuelle Demokratie. Hamburg: Rotbuch-Verl., 1997. 135 S., DM / sFr 29,80 / öS 218