Die Entzauberung partizipativer Demokratie

Ausgabe: 2013 | 2

Die EU greift mit ihren Entscheidungen immer stärker in das Leben der Bürger und Bürgerinnen ein und es stellt sich die Frage, inwieweit diese Entscheidungen auf demokratischem Wege zustandekommen. Eine Antwort darauf glaubt die EU im Vertrag von Lissabon gefunden zu haben. Darin wurden nämlich erstmals im Primärrecht der EU zentrale Prinzipien partizipatorischer Demokratie verankert. So wurde der Dialog mit der Zivilgesellschaft systematisch ausgebaut und die bereits praktizierten, mitunter intransparenten Konsultationsverfahren auf eine vertragliche Grundlage gestellt. Vor diesem Hintergrund dokumentieren die Autorinnen dieses Bandes Ergebnisse eines Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Implementierung zivilgesellschaftlicher Partizipation und dessen Beitrag zum Abbau des Demokratiedefizits in der EU. Ziel ist erstens die Klärung der Fragen nach den Faktoren, die den Grundsatz „partizipativen Regierens“ zu einem Leitprinzip haben werden lassen und zweitens, ob die Praxis der Entscheidungskultur demokratischen Standards genügt. Wie sich herausstellt, ist die Beantwortung dieser beiden scheinbar einfachen Fragen überaus komplex, weil nicht nur die Entscheidungsfindung sehr unterschiedlichen Praktiken folgt, sondern auch die Begriffe Demokratie und Zivilgesellschaft sehr unterschiedlich definiert werden.

 

 

 

Praxis partizipativer Demokratie

 

Die partizipative Demokratie, also das Regieren gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, ist ein Kernpunkt der europäischen Verfassung. Beate Kohler-Koch untersucht deshalb zunächst diesen Anspruch auf Bürgernähe empirisch und analysiert, auf welche Weise die zivilgesellschaftliche Einbindung tatsächlich erfolgt. Gleichzeitig prüft sie, inwieweit die politische Praxis das Qualitätsmerkmal „partizipative Demokratie“ verdient.

 

Partizipation geht grundsätzlich davon aus, „dass die von einer Politik Betroffenen die Möglichkeit haben, sich unmittelbar und themenspezifisch in den Politikprozess einzubringen“ (S. 7). Genau deshalb bedarf es zusätzlicher Mechanismen, um ein Regieren im Interesse der Bürger sicherzustellen, so die These von Kohler-Koch. Dabei geht es ihr aber nicht nur um die vielen unterschiedlichen Gesichter der europäischen Zivilgesellschaft, sondern auch um die Analyse des engen Zusammenhangs zwischen demokratietheoretischen Präferenzen und Ordnungsvorstellungen, die sich mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verbinden. Sie benennt zwei ambivalente Grundkonzepte und stellt deren Widersprüchlichkeit heraus: Mit der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in die konkrete Politikgestaltung könnten diese, so die Annahme von Beate Kohler-Koch, „nicht gleichzeitig die kritische Öffentlichkeit bilden und Nährboden für eine transnationale aktive Bürgerschaft sein“ (S. 73).

 

Weiters diskutieren Christine Quittkat und Beate Kohler-Koch die Zusammenarbeit der Kommission mit gesellschaftlichen Gruppen, die sich im Laufe der Zeit zu einem „Konsultationsregime“ verdichtet haben. Dabei zeichnen sie Entwicklungslinien von rein hierarchischen Beratungsformen über projektgebundene Beteiligungen ausgewählter Verbände bis hin zur Ausweitung von verpflichtenden Konsultationen auf nahezu alle Politikfelder nach. Die Vernetzung neuer Akteure wird sodann in den Bereichen Gesundheit und Verbraucherschutz sowie Beschäftigungs- und Sozialpolitik analysiert. Anschließend zeigt Christine Quittkat die breite Palette der Konsultationsinstrumente. Sie stellt dabei vor allem die technischen Möglichkeiten und demokratischen Zugewinne durch Online-Konsultationen heraus und zeigt, wie die Europäische Kommission diese konkret gestaltet und wie dadurch das Versprechen, die Zivilgesellschaft umfassend und wirkungsvoll einzubinden, zum Teil eingelöst wird. Trotz Verbesserungen, so Quittkat, könne das Instrument aber nur in begrenztem Maße die Anforderungen an demokratische Partizipation erfüllen, weil nach wie vor Ungleichgewichte in der Vertretung der Interessen bestünden.

 

Ein weiteres Thema ist die Herstellung von Öffentlichkeit als Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft (Christina Altides). Die vergleichende Untersuchung der Kommunikationspolitik ausgewählter Verbände in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien verdeutlicht Unterschiede vornehmlich zwischen den Ländern und auch zwischen unterschiedlichen Typen von Verbänden. Dabei zeigt sich, wie begrenzt die Chancen für die Schaffung europäischer Öffentlichkeiten im Grunde noch sind.

 

In der abschließenden Zusammenschau kommt Kohler-Koch zu einer ernüchternden Beurteilung der Beteiligungspraxis insgesamt. Als Nebenwirkung „mit zweifelhaften demokratischen Effekten“ (S. 268) werde zum einen die Kommission gestärkt, da der Brückenschlag zum Europäischen Parlament nach wie vor fehle. Zum anderen könne die Anerkennung zahlreicher Nicht-Regierungsorganisationen nicht darüber hinwegtäuschen, dass von gleichen Beteiligungschancen der Bürgerinnen und Bürger keine Rede sein könne, sondern mitunter lediglich eine „Pluralisierung der europäischen Lobby“ (S. 241) erfolge. Schließlich zeigt die Mitherausgeberin auch, dass der Verfassungsgrundsatz der partizipativen Demokratie von Anfang an ein überhöhter normativer Anspruch war, der nicht mit dem Verfassungssystem der EU kompatibel sei und somit auch nicht als Referenz für die Beurteilung der Rolle der Zivilgesellschaft tauge. Zwar sei eine Pluralisierung der europäischen Lobby unübersehbar, die unerlässliche Rückbindung an den Bürger ist nach Ansicht der Autorin aber nach wie vor nicht gelungen. A. A.

 

 

 

Die Entzauberung partizipativer Demokratie. Zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU-Governance. Hrsg. v. Beate Kohler-Koch ... Frankfurt a. M. (u.a.): Campus, 2011. 323 S., € 34,90 [D], 35,95 [A], sFr 48,90 ; ISBN 978-3-593-39293-6