"In den letzten zwanzig Jahren waren die Physiker gleich drei oder viermal gezwungen, ihre Vernunft völlig umzubauen. Und in intellektueller Hinsicht heißt das: Sie mußten ein neues Leben beginnen." Dieser Satz aus dem 1934 entstandenen und nun erstmals in deutscher Sprache vorliegenden Werk verdeutlicht, welche Faszination von wissenschaftlichem Denken und auch vom Denken über Wissenschaft ausgeht. Die umwälzenden Neuerungen seiner Zeit systematisch darzustellen ist Ziel Bachelards. Der Physiker und Philosoph stellt sich dabei gegen Descartes, der Wissenschaft in den Mitteln des Alltagsverstandes begründet sah. Bachelard dagegen weist nach, daß wissenschaftlicher Fortschritt niemals von Gegebenem ausgeht, sondern Wirklichkeit konstruiert und damit Erfahrung wie auch Natur zerstört. Der unauslösbare Dualismus zwischen (theoretischem) Denken und (praktischer) Erfahrung verlangt nach einer Pädagogik der Ambiguität, die Widersprüche auch noch in der Synthese erkennt und vermittelt. Bachelard unter-: sucht diese Phänomene des wissenschaftlichen Denkens anhand bekannter physikalischer Dilemmata wie Materie und Strahlung, Korpuskeln und Wellen. Auch die erstaunlich früh formulierte Einsicht, daß Wissenschaft notwendigerweise "polemisch" und vor allem auf Realisierung des Gedachten abzielt, findet sich heute mehr denn je bestätigt. Als Wissenschaftstheoretiker zeigt Bachelard damit auch Ansätze aktueller Wissenschaftskritik.
Bachelard, Gaston: Der neue wissenschaftliche Geist. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 177 S.