Wolf Lotter

Zusammenhänge

Ausgabe: 2021 | 1
Zusammenhänge

Wenn viele Menschen meinen, die Welt nicht mehr zu verstehen – liegt das dann an der Welt oder an der Denkweise, mit der sie zu verstehen versuchen? Auf jeden Fall ist etwas verloren gegangen: das Gefühl, in Einklang mit der Welt zu sein. Der Zusammenhang zwischen Ich und Welt.

Zusammenhänge heißt das neue Buch von Wolf Lotter, und es will zeigen, wie diese sich in unserer unübersichtlich gewordenen Welt (wieder) herstellen lassen, ohne deren Komplexität zu verleugnen. Denn Komplexität ist die entscheidende Kategorie. Die Tür zum Verständnis der Welt. Bisher wurde Komplexität nur verschieden reduziert, es geht aber darum, sie zu erschließen. Der Schlüssel ist Kontextkompetenz. Denn Wissen entfaltet sich nur in Kontexten, in Zusammenhängen. „Kontextkompetenz heißt, Komplexität zu erschließen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere“, schreibt Lotter (S. 14). Der deutsch-österreichische Journalist und Autor ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins, für das er seit 2000 die Essays zu den Schwerpunktthemen schreibt. Mit seinen Grundsatzartikeln und Büchern ist er zum Vordenker der Entwicklung von der alten Industriegesellschaft hin zur neuen Wissensgesellschaft geworden.

Generalinventur unserer Weltsicht

Diese Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft bildet auch den großen Rahmen, in dem Lotter sein Thema aufhängt. Diese Transformation führt dazu, dass unser überkommenes Denken nicht mehr zu der sich verändernden Welt passt. Es brauche daher eine „Generalinventur unserer Weltsicht“, so der Autor (S. 65) Das bedeutet zuallererst, Komplexität anzuerkennen, verlangt aber auch ein Verständnis dafür, warum diese Denkweise an ihre Grenzen stößt. Beides will Lotters Buch vermitteln.

Der Industrialismus, so die zentrale These, hat in den letzten 250 Jahren unser Denken in einer extremen Weise zur Einheitlichkeit getrieben. Ein zur Einheit strebendes universalistisches Denken ist die Grundlage der materiellen Erfolge der Industriegesellschaft. Eindeutige Entscheidungsmodelle (Entweder-oder), durchgängige Arbeitsteiligkeit, Perfektion, Reproduzierbarkeit und die stetige Optimierung von Routinen sind die Prinzipien einer Produktionsweise, die nun nicht nur die Belastungsgrenzen des Planeten überschreitet. Sie hat auch ein Denken hervorgebracht, dass nun mit der Vielfalt dieser Welt nicht mehr zurechtkommt. Die Vorstellung, Komplexität reduzieren zu können, folgt der Idee des Reduktionismus. Diese geht davon aus, ein System durch Zerlegung in seine Einzelbestandteile vollständig bestimmen zu können: indem man analysiert - und in der Konsequenz dies in immer weitergehender arbeitsteiliger Spezialisierung weitertreibt. Hier hat der Autor den entscheidenden Punkt offengelegt: In diesem Denkmodell fehlen Synthese und Integration. Der Zusammenhang geht verloren. Es braucht daher eine andere Kulturtechnik, folgert Lotter: „die Fähigkeit, die Welt nicht mehr einfach zu reduzieren, sondern aus Möglichkeiten neue Varianten zu schaffen, neue Zusammenhänge“ (S. 88). Komplexität sei die wichtigste Ressource der neuen Welt: Vielfalt, die Möglichkeiten eröffnet.

Ein anderer Entscheidungsmodus

Wolf Lotter weist auf einen weiteren entscheidenden Punkt hin: Erforderlich ist vor allem auch ein anderer Entscheidungsmodus: Statt Entweder-oder, das immer scheidet, zerlegt und einen Teil ausschließt, braucht es eine Logik des Sowohl-als-auch, die die Zahl der Möglichkeiten nicht reduziert, sondern erhöht. Das Prinzip Sowohl-als-auch ist dabei selbst auf Synthese und Integration ausgerichtet. Es schließt das Teilen und Reduzieren nicht aus, sondern schließt den vermeintlichen Gegensatz ein. Analytisches Denken und Arbeitsteilung sind Teil eines Ganzen, zu dem aber auch die Synthese gehört. Es gilt, wie der österreichisch-amerikanische Philosoph Peter Drucker gesagt hat, sowohl den Wald zu sehen, als auch den einzelnen Baum. Das meint Zusammenhänge herstellen. „Wer also nicht sowohl (im Detail und Fach) als auch (im Kontext) denkt, denkt gar nicht, forscht nicht, sondern denkt nur, er denkt“, das ist für Lotter die zentrale Wissensformel in der sich ausbildenden – und zu verstehenden – Wissensgesellschaft (S. 85).

Lotters Buch streitet für die Einsicht, „dass das Mehrdeutige, das Vielfältige, das Persönliche die Grundlage einer besseren Zukunft bildet“ (S. 19). Das bedeutet: Die Transformation ist auch eine vom Universalen hin zum Persönlichen. Personalisierung ist für den Autor ein neuer bestimmender gesellschaftlicher Sinnzusammenhang. Hier mündet eine große Entwicklungslinie, die mit der Aufklärung begonnen hat: „die Aktivierung der Person“ (S. 24), Selberdenken. Weil Menschen aber nicht nicht kooperieren können, wie Lotter schreibt, werden Verstehenwollen und Verstehenkönnen entscheidend: „Zusammenhänge entstehen, wo man aufeinander zugeht.“ (S. 245) Eines der wichtigsten Bücher des Jahres.