Giovanni Maio

Den kranken Menschen verstehen

Online Special
Den kranken Menschen verstehen

Anders als die naturwissenschaftlich orientierte Medizin, die Krankheit vor allem als einen Defekt interpretiert, den es um jeden Preis zu beheben gilt, sieht der in Freiburg wirkende Arzt, Philosoph und Medizinethiker Giovanni Maio seine Disziplin vorrangig nicht als eine Kunst des Machens, sondern des Verstehens. Die Behandlung eines kranken Menschen „kann nur dann glücken, wenn die Handlungen in eine gelingende Interaktion eingebettet sind“, postuliert Maio, und fordert damit nicht weniger als eine „neue Grundorientierung in der Medizin“ (S. 28).

Fünf Themenfelder im Fokus

Anhand von fünf Themenfeldern (chronische Schmerzerfahrung, Krebs, Parkinson, Demenz und Sterben) zeigt der Autor, dass es Kranken selbst bei größten Herausforderungen immer wieder gelingt, noch Lebenssinn zu finden, an ihrem Schicksal zwar zu hadern, aber nicht zu verzweifeln, sondern daran zu wachsen. Chronischer Schmerzerfahrung können Betroffene zwar nicht entkommen, denn das mache sein Wesen aus, doch sei es möglich, „das Gefühl der Wertigkeit des Lebens“ zu bewahren. Krebspatienten, die mit der Diagnose „aus der Normalität katapultiert werden“, könnten, unterstützt durch einfühlsame Begleitung, lernen, „die Erkrankung […] in das eigene Lebenskonzept zu integrieren“, um zu erfahren, dass auch „eine kürzere Biografie zu einer neuen, bislang ungekannten Erfüllung führen kann“ (S. 65f.). Die Entfremdung des eigenen Körpers, die mit der Erkrankung an Parkinson mit einhergeht, für Erkrankte das Stehenbleiben der Zeit und die Unüberwindlichkeit des Raums bedeutet, versteht Giovanni Maio als „Weckruf für die Gesunden, das Menschsein nicht auf die Parameter der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit zu reduzieren“ (S. 76).  Die Erkrankung an Demenz bedeute ein „Fortbestehen der Identität in neuer Form“ (S. 78) und gehe für Betroffene wie nirgends sonst mit dem Gefühl des völligen Ausgeliefertseins einher. Zwar büßen Menschen (meist nach und nach) ihre kognitiven Fähigkeiten ein, doch „sie bewahren sich die Fähigkeit, ihren eigenen Leib wahrzunehmen, und d. h., sich in sich selbst wohl zu fühlen, angenehme Gefühle zu empfinden. […] Wenn also suggeriert wird, es habe gar keinen Sinn, einen an Demenz erkrankten Menschen zu besuchen, dann ist das tragisch, weil diesem so die Möglichkeit genommen wird, neue Erfahrungen zu machen und sich über seine leiblichen Empfindungen Neuzugänge zu seinen verschütteten Lebenserinnerungen zu bahnen“  (S. 85).

Über die Beziehung zwischen Betroffenen 

Selbst am Lebensende kommt der Beziehung zwischen den Betroffenen größte Bedeutung zu. Denn Autonomie, so G. Majo, bedeutet nicht, „gänzlich ohne die Hilfe anderer auszukommen. In diesem Verständnis nehmen wir unweigerlich eine Abwertung vor, eine Abwertung allen verzichtvollen Lebens, eine Ablehnung jeder Form von Leben, das auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Dass wir aber selbst das ganze Leben hindurch Angewiesene sind, wird dabei nicht mitbedacht. An die Stelle dieser Reflexion tritt die Illusion einer Kontrolle über das Leben bis in den Tod" (S. 101). Richtig verstanden, „besteht Autonomie doch vielmehr gerade darin, mit den unvermeidbaren Verhältnissen der Angewiesenheit so umzugehen, dass man durch sie hindurch man selbst sein kann. Es geht darum, einen kreativen Umgang mit der unhinterfragbaren Tatsache zu erlernen, tagtäglich und in unzähligen Formen auf andere angewiesen zu sein“ (S. 102) Nicht zuletzt wird im Alter die Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen zum Normalzustand (ebd.) Daraus folgt überzeugend: Für das Wohlergehen des Menschen muss die unveräußerliche Freiheit und Verfügbarkeit eines jeden Menschen eingebettet werden in eine Kultur der helfenden Unterstützung, in eine Kultur der Sorge um den anderen.“ (S. 103).

Begreift man als Ärztin, Assistenz oder Angehörige die Vermittlung und Begleitung Erkrankter als essentielle soziale Aufgabe – wie sie auch in der Hospizbewegung verstanden wird –, erscheint die aktuelle Diskussion um den assistierten Suizid als „Entpflichtung der Gesellschaft“. Denn nicht der „Privatisierung eines gesamtgesellschaftlichen Defizits“, sondern der „Entwicklung einer Kultur der Anerkennung und Reintegration Schwerkranker“ sollten wir uns widmen, fordert Giovanni Maio (S. 109ff.).

Drei Wege der Bewältigung von Krankheit

Drei Wege der Bewältigung von Krankheit werden auch mit Bezug auf Philosophie und Psychologie ausführlich erörtert:  Annehmen (das gute Leben als die Kunst des Sich-Einrichtens), Vertrauen (als akzeptierte Verwundbarkeit, Verpflichtung zur Gegenseitigkeit und gemeinschaftsstiftende Kraft) und Hoffen (als realistischen Zukunftsbezug, Nicht-Fixiertsein, Geduld, Impuls zum Handeln und Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit). „Alles Hoffen ist Gemeinschaft“, es „bleibt angewiesen auf ein Du, auf Zwischenmenschlichkeit“ (S. 176ff.). Den kranken Menschen zu verstehen, bedeutet, ihn in seiner Gesamtheit (so gut wie möglich) zu sehen, sich „aus der Distanz hineinzudenken“, sich selbst infrage zu stellen, zu verweilen und auch gemeinsam schweigen zu können, denn „ohne Begegnung ist alles nichts“. Ein großartiges Buch!