Max Czollek

Gegenwartsbewältigung

Ausgabe: 2021 | 1
Gegenwartsbewältigung

Mit Gegenwartsbewältigung ist diese neueste Publikation von Max Czollek benannt. Der Titel steht offenkundig im Kontrast zum Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“, welcher für die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime zentral war. Czollek spricht von „Gedächtnistheater“, bei dem Jüdinnen und Juden eine zentrale Rolle spielen. Man nehme an, die Vergangenheit sei bewältigt, wenn eine „Deutsche Leitkultur“ vor Antisemitismus schütze. Wenn das erledigt sei, könne man wieder Deutschlandfahnen schwingend „die Nationalhymne rülpsen“, auch wenn es noch immer Pogrome gegen Menschen gebe. (vgl. S. 16)

Eben dem setzt Czollek  die sogenannte Gegenwartsbewältigung entgegen. Dabei geht es ihm darum, eine Konzeption zu entwickeln, die auf einem Bewusstsein der Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart basiere, das aber nicht voraussetzt, dass alle Menschen, denen Leid angetan wurde, erst vergessen oder versöhnlich werden und die Tätergesellschaft erlösen, wie Czollek es in Interviews auf den Punkt bringt. Es werde für Täterinnen und Täter keine Erlösung geben, meint er.

„Glücklicherweise ist die Idee deutscher Dominanz nicht die einzige Antwort auf die Frage nach der Zukunft dieser Gesellschaft. Die Alternative liegt auf der Hand: Ein Viertel der Bevölkerung des Landes hat eine Migrationsgeschichte, (…). Die größte Gemeinsamkeit der Deutschen ist wahrscheinlich ihre Differenz zueinander (…). Leitkultur funktioniert in einer solchen radikal vielfältigen Gesellschaft nicht, weil es kein dominantes Zentrum mehr gibt.“ (S. 20f.) Es sei doch ganz offensichtlich, so Czollek, dass man in einer „postmigrantischen“ (er zitiert Naika Foroutan) oder „pluralistischen Gesellschaft“ (Isolde Charim) lebe. Fragwürdig sei umso mehr, warum sich bestimmte Annahmen kultureller Dominanz trotzdem so beständig halten.

Czollek entwickelt die Idee einer „jüdisch-muslimischen Leitkultur“. Das sei der strategisch-absurde Gegenentwurf zur deutschen Erzählung von Heimat, Harmonie und Einheit. Sie sei die Konsequenz aus der Einsicht, dass die plurale Gesellschaft nicht nur auf Vielfalt basiere, sondern dass sie aus dieser Vielfalt auch ihre Widerstandfähigkeit schöpfe. Angesichts rechter Terrorangriffe in den letzten Jahren sei klar, dass es entweder sowohl jüdischen wie muslimischen Menschen gelinge in Deutschland zu leben, oder beiden nicht. (S. 181)